Friedensbewegung in Israel: Das grosse Schweigen

Nr. 43 –

Zum fünften Mal innerhalb von dreieinhalb Jahren finden in Israel Neuwahlen statt. Die politischen Fronten sind verhärtet, die Perspektiven düster. Wieso redet niemand mehr darüber, dass auch Frieden herrschen könnte?

Symbolbild: Eine Hand hält einen Ölzweig
«Die Herausforderung ist es, die Menschen dazu zu bringen, wieder daran zu glauben, dass Frieden möglich ist», sagt der ehemalige Parlamentarier Dov Khenin. Foto: Oded Balilty, Keystone

Eine Reportage über die Friedensbewegung sollte ich schreiben. Selten war meine Ratlosigkeit angesichts eines Auftrags grösser. Über Frieden spricht man nicht in Israel, ich auch nicht. Dabei zerreisst mir der palästinensisch-israelische Konflikt das Herz, seitdem ich vor rund zehn Jahren wegen einer Recherche für meine Doktorarbeit nach Jerusalem gekommen bin, in Ramallah Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und mich in Tel Aviv in meinen jetzigen Partner verliebt habe. Und nicht zuletzt, seitdem ich tagtäglich über diesen Konflikt berichte.

Dass kein Frieden herrscht, ist ein Elefant im Raum, den die allermeisten Israelis heutzutage selbst dann ignorieren, wenn er ihnen ins Ohr trompetet. Während in den neunziger Jahren noch Zehntausende von Menschen für den Frieden auf die Strasse gingen, herrscht heute, rund dreissig Jahre später, vor allem eins: Schweigen.

Anschlag auf den Friedensprozess

Am 1. November wird in Israel gewählt – zum fünften Mal innerhalb von dreieinhalb Jahren. Es geht darum, ob Benjamin Netanjahu alias «King Bibi» zurück an die Macht kommt. Mehr als hundert Palästinenser:innen sind in den letzten Monaten vom israelischen Militär im Westjordanland getötet worden. Vor zwei Wochen wurden innerhalb von wenigen Tagen zwei israelische Soldat:innen von Palästinensern getötet. Israelis wie Palästinenser:innen machen sich Sorgen, dass die dritte Intifada bevorsteht. Einige glauben, sie sei schon da. Doch von einem Versuch, sich mit den Palästinenser:innen zu einigen – keine Rede. Nirgends. Das Wort «Frieden» ist aus dem israelischen Diskurs verschwunden.

«Wer glaubt, dieser Konflikt lasse sich mit Gewalt lösen, der träumt.»
Roni Keidar, Friedensaktivistin

Wie schreibt man über etwas, das tot ist? Ich könnte die Seite weiss lassen. Oder aber die Trauer und den Zynismus ergründen, die das Wort «Frieden» haben verschwinden lassen. Auch wenn ich dafür in Kauf nehmen muss, für naiv gehalten zu werden. Fragt man Israelis nach Frieden, erzählen sie – nach einem anfänglichen Schock – fast ausnahmslos von den neunziger Jahren. Die Hoffnung war gross, als sich Jassir Arafat und Jitzhak Rabin 1993 vor dem Weissen Haus die Hände schüttelten. Doch dann schoss auf der Friedenskundgebung am 4. November 1995 der rechtsreligiöse Fanatiker Jigal Amir, Gegner des Friedensprozesses, auf Rabin. Der Ministerpräsident starb im Spital.

Mit schwarzem Edding schrieb mein damals zwanzigjähriger Partner auf den weissen Boden auf dem Platz der Könige Israels, heute Rabin-Platz, ein Zitat aus dem Doors-Klassiker «This is the end». Einer der unermüdlichsten Friedensaktivisten, Buma Inbar, hatte gerade seinen Sohn verloren, der als Soldat im Libanon im Einsatz war, und wollte Rabin an diesem Abend einen Brief überreichen mit der dringenden Bitte, dass sein Sohn der Letzte gewesen sein möge, der dem Konflikt zum Opfer fiel.

Rabin hatte auf der Kundgebung, etwas schüchtern und schief, noch die Hymne der Friedensbewegung mitgesungen, «Shir LaShalom» – das Lied auf den Frieden. Kurze Zeit später fand man in seiner Brusttasche ein blutgetränktes Blatt mit dem Liedtext. «Frieden im Nahen Osten braucht Anführer, die bereit sein müssen, ermordet zu werden», sagte Yossi Beilin, einer der Architekten des Oslo-Friedensprozesses, einmal zu mir in einem Interview.

Bis heute hat sich das Land nicht von diesem Mord erholt. Bei den Neuwahlen im Mai 1996 wurde der Likud-Anführer Benjamin Netanjahu, der jahrelang gegen den Friedensprozess und Rabin gehetzt hatte, Ministerpräsident. Sein Programm: Siedlungen bauen, den Friedensprozess austrocknen. Das «Shir LaSha­lom», das Lied auf den Frieden, wurde von nun an rückwärtsgerichtet gesungen.

Taumelnde Hoffnung

Und dann, im Jahr 2000, ging auch die Hoffnung verloren. Der gemässigte Ehud Barak kehrte von einer Verhandlungsrunde mit Arafat aus Camp David zurück. Angeblich hatte Israel alle Zugeständnisse gemacht, die seine Führung hatte machen können. Doch die Verhandlungen waren gescheitert, und Barak prägte einen Satz, der den friedensbewegten Israelis jegliche Hoffnung nahm: «Wir haben keinen Partner.»

Die Sprachlosigkeit setzte ein. Und die zweite Intifada, die Selbstmordanschläge, in denen Palästinenser:innen Busse und Restaurants in die Luft jagten, traumatisierten die Gesellschaft. Die Traumatisierung ist oft nicht an der Oberfläche sichtbar, doch wenig dürfte die israelische Gesellschaft mehr verändert haben.

«Die derzeitige Herausforderung ist es, die Menschen dazu zu bringen, wieder daran zu glauben, dass Frieden möglich ist», sagt Dov Khenin am Telefon, einer der wenigen jüdischen Israelis, die jemals für eine mehrheitlich arabische Liste im Parlament gesessen haben. Er glaubt, dass die Oslo-Abkommen an sich, trotz einiger Probleme, gut gewesen seien. Doch einige Linke kratzten schon früh am Image der Verhandlungen in Oslo Mitte der neunziger Jahre: Das Friedensabkommen habe Sollbruchstellen gehabt, glauben sie. Nicht wegen der Kritik von rechts, die den Friedensprozess als Betrug an Israel verstand, mit zu vielen Zugeständnissen an die Palästinenser:innen, sondern weil es ein fauler Frieden war, der verkauft werden sollte. Das Oslo-Friedensabkommen, so argumentieren sie, habe die palästinensische Autonomiebehörde zum langen Arm der Besatzung gemacht. Israel habe sich wirtschaftliche Vorteile davon versprochen, einen Teil der bürokratischen Verantwortung für das Westjordanland in palästinensische Hände zu geben. Währenddessen schuf der fortschreitende Siedlungsbau Tatsachen. Ein Frieden auf Augenhöhe mit den Palästinenser:innen sei das nie gewesen.

Zwischen den Kriegen

Es gab ein paar Versuche, den Friedensprozess wiederzubeleben, keiner von ihnen zeigte Wirkung. Sie zementierten nur die Nutzlosigkeit, die das Wort «Frieden» mittlerweile erfüllte – in allen Lagern.

Bei den Rechten herrscht heute der Glaube vor, dass der Konflikt verwaltet werden kann. Ab und zu gibt es ein paar israelische Opfer, ab und zu eine «Militäroperation» in Gaza, aber im Grossen und Ganzen spürt man wenig vom Konflikt, während man in Tel Aviv Cappuccino trinkt. «HaMaaracha ben HaMilchamot» (die Kampagne zwischen den Kriegen) lautet ein stehender Begriff im Hebräischen. Er beschreibt die Aktionen des Geheimdienstes und des Militärs, die den Beginn des nächsten Kriegs hinauszögern sollen.

Aber ist der Frieden nicht eigentlich mehr als eine kurze Abwesenheit von Krieg? Ist da nicht noch mehr, als es sich den grössten Teil der Zeit bequemlich einzurichten, während Palästinenser:innen durch die Trennungspolitik für israelische Augen unsichtbar gemacht werden? Kassandrarufe warnen, dass die Situation jederzeit eskalieren könnte: «Niemand ist so gefährlich wie ein verzweifelter Gegner», sagen die warnenden Stimmen. Nun, da es im Westjordanland brodelt, könnte sich die Warnung bestätigen.

Unter Linken gibt es heute kaum noch solche, die sich «Friedensaktivist:innen» nennen – eher «Kritiker:innen der Besatzung». Statt von Frieden sprechen sie von «gemeinsamem Kampf» und «Übergangsjustiz». Gemeinsam haben diese Begriffe, dass sie die Unterdrückung der Palästinenser:innen in den Vordergrund stellen und – anders etwa, als es noch beim Oslo-Friedensprozess vorgegeben wurde – nicht von gleichgestellten Partnern ausgehen.

Zunehmend wird der Konflikt zwischen Israel und Palästinenser:innen unter Linken auch als Kolonialismus verstanden. Es ist ein Wort, das es schwer macht, gleichzeitig von Frieden zu sprechen. «Auch den Algerier:innen hat ja niemand gesagt, dass sie endlich mit Frankreich Frieden schliessen sollten», sagte einmal ein Freund und israelischer Aktivist zu mir.

Doch noch gibt es sie, diejenigen, die das Wort «Frieden» wiederbeleben wollen. Eingedenk aller Kritik. So wie Eilat Maoz, die – wie sie selber lachend sagt – vielleicht einzige Person in Israel, die zugibt, über das Thema Frieden noch ernsthaft nachzudenken.

Die 38-jährige Anthropologin und Aktivistin aus Haifa kann eloquent von Walter Benjamin zum Urvater der Kolonialismuskritik, Frantz Fanon, überleiten und von dort aus weiter zu Karl Marx. Fragt man sie nach Frieden, verstummt sie kurz: «Meines Erachtens ist der Wunsch nach Frieden etwas sehr Grundlegendes», sagt sie dann. Genau deswegen möchte sie das Wort «Frieden» wiederbeleben. «Auch wenn man auf den Konflikt durch die Brille des Kolonialismus blickt», sagt Maoz. «Wir müssen den Kolonialismus hinter uns lassen, aber es kann nicht der Plan der Linken sein, die Kolonisator:innen rauszuschmeissen.» Das Ziel könnte ein Prozess sein, der nicht die Fehler von Oslo wiederholt, sondern tatsächlich auf Augenhöhe mit den Palästinenser:innen erfolgt, der gewissermassen «von unten» ausgeht.

Und dann gibt es noch Roni Keidar, eine Israelin Mitte siebzig, die niemals aufgehört hat, sich als Friedensaktivistin zu bezeichnen. Von ihrem Zuhause an der Grenze zum Gazastreifen aus fährt sie palästinensische Patient:innen in israelische Spitäler, baut Unterstützungsstrukturen für Kinder in Gaza auf und kämpft Seite an Seite mit den Palästinenser:innen auf der anderen Seite der Grenze gegen die Besatzung. «Viele sagen, ich sei eine Träumerin. Aber das bin ich nicht. Wer denkt, dieser Konflikt von zwei Gruppen um das gleiche Land lasse sich mit Gewalt lösen, der träumt. Wer glaubt, die Besatzung lasse sich verwalten – der ist ein Träumer. Ich mit meinem Glauben an Frieden, ich bin die Realistin.» Und ich, als Aussenstehende, habe dem nichts hinzuzufügen.

Judith Poppe lebt in Tel Aviv. Sie ist freie Korrespondentin für Israel sowie die palästinensischen Gebiete und hat eine Dissertation über deutschsprachige Literatur Israels geschrieben.