Proteste im Iran: Revolutions­garden gegen die Revolution

Nr. 43 –

Viele Iraner:innen demonstrieren weiterhin auf den Strassen. Dort stehen ihnen die Revolutionsgarden gegenüber. Sie gehören zu jenem Teil des Regimes, der am meisten Macht hat – und am meisten zu verlieren.

Sie fordern den Umsturz der bestehenden Ordnung. Seit fünf Wochen gehen Menschen im Iran dafür auf die Strasse – angeführt von der jungen Generation. Aber die Protestierenden sind mit einem widerstandsfähigen und organisierten Regime konfrontiert, das bisher keinen Millimeter nachgegeben hat, sondern heftig auf den Aufstand reagiert, oft mit tödlichen Folgen.

Eine zentrale Rolle spielen dabei die Revolutionsgarden, auch Pasdaran genannt. Sie entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten zu einer Institution mit knapp 200 000 Soldaten und sitzen an den Schalthebeln der Macht. Gegründet wurden die Revolutionsgarden als Dachverband islamistischer Milizen, die den Klerus bei der Konsolidierung der Macht nach 1979 unterstützten. Damals zählten sie kaum 500 Mitglieder. Im Zuge des Kriegs zwischen dem Iran und dem Irak in den achtziger Jahren konnten sie sich als parallele militärische Organisation mit eigener Bodentruppe, Luftwaffe und Marine institutionalisieren. Darauf folgte der Aufbau eines Wirtschaftsimperiums: Heute kontrolliert die einst kleine Miliz schätzungsweise einen Drittel der iranischen Wirtschaftskraft. Sie mischt mit ihren Unternehmen in diversen Industriezweigen mit, etwa im Bauwesen, in der Telekommunikation, im Bergbau oder im Öl- und Gasgeschäft.

Und seit Ende der neunziger Jahre sind die Revolutionsgarden auch in der Politik aktiv. Sie bilden heute die Grundlage der ultrakonservativen Regierung von Ebrahim Raisi. Ihre Vertreter besetzen zahlreiche politische Ämter im Parlament, in Ministerien, im Kabinett und in Provinzregierungen. Sogar im Ausland sind sie aktiv. Die Kuds-Brigaden unterhalten ein Netz von mächtigen Stellvertretermilizen im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen, die ihnen jederzeit zu Hilfe eilen können.

Staat im Staat

Die Revolutionsgarden sind Teil eines Netzwerks, das auch als «deep state» bezeichnet wird. Der iranische «tiefe Staat» ist aber kein klandestiner Schattenstaat. «Das iranische System hat zwei Säulen», sagt Reinhard Schulze vom Forum Islam und Naher Osten der Universität Bern. Die eine Säule sei der bürgerliche Staat mit seinen drei theoretisch getrennten Gewalten. «Die andere Säule ist der vom verstorbenen Ajatollah Ruhollah Chomeini geschaffene ‹Wächterrat› – angeführt vom Religionsführer selbst.» Tatsächlich sei es diese vierte – oder besser gesagt: erste – Gewalt, die den übrigen Staat dominiere, so Schulze. Dem Wächterrat sind auch die Pasdaran angeschlossen. Sie bilden eine eigenständige Exekutivgewalt, die nicht dem bürgerlichen Staat unterstellt ist. «Neben dem Religionsführer sind sie die zentrale Machtinstitution im Regime», sagt Schulze.

«Der Grossteil der Bevölkerung will keinen blutigen Prozess mit ungewissem Ausgang.» Cornelius Adebahr, Denkfabrik Carnegie

Ausser den Revolutionsgarden gehören noch weitere Akteure zu diesem «tiefen Staat». Das Netzwerk sei vielschichtig, sagt Sanam Vakil von der britischen Denkfabrik Chatham House: «Dazu gehören Personen und Einrichtungen aus der Wirtschaft, dem Sicherheitsapparat, dem Geheimdienst, der Justiz, der religiösen Bürokratie und aus Stiftungen.» Und dieses Netzwerk habe unter Religionsführer Ali Chamenei massiv an Einfluss gewonnen und wesentlich dazu beigetragen, dass die gewählte Regierung im Gegenzug immer mehr an Bedeutung verloren habe. Sei es durch Wahlmanipulation oder durch die Platzierung von Repräsentanten im politischen System.

In den neunziger Jahren wurden darüber hinaus weitreichende Privatisierungen staatlicher Unternehmen beschlossen. So wuchs auch die wirtschaftliche Macht dieses Netzwerks. Ein grosser Teil der staatlichen Ressourcen wurde auf Unternehmen übertragen, die mit dem «tiefen Staat» in Verbindung stehen. Ein Umstand, dem zu wenig Bedeutung beigemessen werde, etwa wenn es um das Verhängen von Sanktionen gehe. Denn letztlich kämen viele solcher Sanktionen diesem Netzwerk zugute, sagt Vakil. Weil es die Kontrolle über die iranische Schattenwirtschaft ausübe – inklusive des Erdölschmuggels.

Fest im Sattel

Die Bevölkerung, die auf den Strassen protestiert und sich ein demokratisches, gar säkulares System wünscht, steht also einem gewaltigen Machtapparat gegenüber, der grosses Interesse daran hat, den Status quo zu bewahren, weil er davon profitiert. Indem die Protestierenden das theokratische System bekämpfen, stellen sie auch die eigentliche Existenzberechtigung der Revolutionsgarden infrage. Die Sicherheitskräfte, die gegen die Proteste vorgehen, wären besonders stark von einer politischen Transformation der Islamischen Republik betroffen. Das macht es unwahrscheinlicher, dass sie sich dem Aufstand anschliessen, sondern spricht eher dafür, dass sie auch weiterhin mit allen Mitteln das Überleben des Regimes zu sichern versuchen werden.

Cornelius Adebahr von der Denkfabrik Carnegie ist deshalb pessimistisch – auch wenn die Proteste im Iran von Angehörigen aller Altersgruppen, Klassen und Ethnien mitgetragen werden: «Das Regime hat alle Machthebel zur Verfügung und sitzt immer noch fest im Sattel.» Um es stürzen zu können, brauche die Bewegung eine Organisationsstruktur, eine Führungspersönlichkeit und ein politisches Programm: einen Entwurf davon, wie das neue System dereinst aussehen soll. Das sei entscheidend, ist Adebahr überzeugt: «Der Grossteil der Bevölkerung will sich nicht auf etwas Vages einlassen, will keinen blutigen Prozess mit ungewissem Ausgang.»

Bisher haben sich denn auch keine einflussreichen Personen aus Militär, Wirtschaft oder Politik, der religiösen Führungsetage oder eine signifikante Anzahl von Personen aus dem Sicherheitsapparat auf die Seite der Protestierenden geschlagen. Ohne deren Beteiligung ist eine politische Veränderung schwer zu erreichen.

«Um genau ein solches Szenario zu verhindern, haben die Revolutionsgarden angefangen, Armee- und Polizeiverbände zu infiltrieren», so Adebahr. Es gebe nur wenige Anzeichen für Proteste innerhalb der Behörden, sagt auch Reinhard Schulze von der Universität Bern: «Einzelne Personen aus dem Klerus haben sich gegen die islamische Ordnung ausgesprochen und Chamenei ihre Loyalität entzogen.» Sie sitzen jetzt dafür im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran.

Die nationalistische Karte

Immerhin: Auch wenn es das Regime schafft, die Protestbewegung erneut niederzuknüppeln, erhält das politische System Risse. «Auch wenn das Regime obsiegt, ist es trotzdem der Verlierer, weil es den letzten Rest des Vertrauens der Bevölkerung verloren hat», sagt Schulze. «Das ist dauerhaft nicht tragbar», meint Adebahr. Und er fügt hinzu: «Es ist nicht so, als würde sich das Regime gerade festigen. Es kann nur mit Gewalt reagieren, aber die Brüche bleiben bestehen.»

Die mächtigen Revolutionsgarden sind jedoch nicht mit einem demokratischen System vereinbar. Käme es irgendwann tatsächlich zu einem politischen Umsturz, so würden sie wahrscheinlich die «iranisch-nationalistische» Karte ausspielen, glaubt Adebahr: «Sie würden wohl versuchen, sich nicht mehr als ‹islamisch› zu bezeichnen, sondern im Namen der ‹Einheit und des Wohls der Nation› eine militärische Machtübernahme anstreben.» Es wäre das Gegenteil von dem, was die mutigen Iraner:innen heute fordern.