Arbeitsalltag in Kyjiw: Kurze Haare, damit sie schneller trocknen

Nr. 44 –

Trotz der ununterbrochenen russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur geht das Leben in Kyjiw weiter – mit täglichen Strom- und Wasserausfällen und der Angst vor einem harten Winter.

Anna Bazdyriewa in ihrem Salon in Kyjiw
«Am Tag, an dem Putin stirbt, ist alles kostenlos»: Anna Bazdyriewa in ihrem Salon in Kyjiw.

Eigentlich macht Anna Bazdyriewa keine «Cut & Go»-Haarschnitte. Sie nimmt sich Zeit für ihre Kund:innen. Der Coiffeursalon, ihr Lebenstraum, soll eine Oase der Ruhe sein. Doch am Tag, nachdem ein russischer Raketenangriff achtzig Prozent der Wasserversorgung in der ukrainischen Hauptstadt lahmlegte, sind die Arbeitsbedingungen für die 42-jährige Coiffeurin unberechenbar. «Wissen Sie», beginnt die Salonbesitzerin mit den langen blonden Haaren und Pony seufzend den Satz und sucht nach den passenden Worten, während sie mit schnellen Handbewegungen das Shampoo aus den Haaren einer Kundin spült, «an einem Tag haben wir kein Licht. Am nächsten haben wir kein Wasser. Und jeden Moment kann der Luftalarm wieder losgehen.»

«Wir sorgen dafür, dass sich die Menschen trotz allem schön fühlen können.»
Anna Bazdyriewa, Coiffeurin

Sie weist die Kundin an, vor einem grossen Spiegel Platz zu nehmen, und nimmt Kamm und Schere in die Hand. Der Coiffeurstuhl befindet sich am hellsten Platz im Raum, damit das natürliche Licht von draussen die Lampen ersetzen kann, falls der Strom wieder einmal ausfallen sollte. Und gerade als Bazdyriewa erzählt, wie schwierig ihre Arbeit seit den ununterbrochenen russischen Angriffen auf die zivile Infrastruktur geworden ist, bricht auch an diesem Morgen das laute Föhngeräusch abrupt ab. «Hoffentlich nicht auch noch das Wasser», sagt sie und wirft einen flüchtigen Blick auf die knappen Vorräte, die in Plastikbehältern und Kübeln unterhalb einer Kommode lagern.

Ein wenig Normalität

Mit verschränkten Armen steht die Coiffeurin in ihrem Salon und erwartet, dass sich das immergleiche Spiel der vergangenen Tage auch an diesem Morgen wiederholt: stundenlanges Warten auf Strom, Terminverschiebungen, Kund:innen, die den Salon mit nassen Haaren verlassen müssen. Heute haben sie mehr Glück. Nach dreissig Minuten meldet sich der Föhn zurück.

«Doch das alles sollte so nicht sein», sagt Bazdyriewa und beginnt damit, die auf den Boden gefallenen Haarsträhnen zusammenzukehren. «Wir sind ja Dienstleister und sorgen dafür, dass sich die Menschen auch während des Kriegs normal fühlen können. Dass sie sich trotz allem schön fühlen können.» Seit einem Jahr betreibt sie den Salon im Erdgeschoss eines 2021 fertiggestellten Wohnblocks. Den Raum teilt sie sich mit einem Dutzend Kosmetikerinnen. «Wir arbeiten alle mehr als vor dem Krieg und haben viel weniger Zeit für die Familie», sagt die Coiffeurin. «Wir müssen die Stunden gutmachen, die wir wegen der Stromausfälle verlieren.»

Der russische Angriffskrieg bringt die Salonbetreiberin auch finanziell in eine schwierige Situation. «Es ist für mich als Unternehmerin unmöglich, unter diesen Umständen mein Geschäft zu planen», sagt Bazdyriewa. Vor dem Krieg hatte sie eigentlich vor, eine zweite Filiale zu eröffnen. Die Stammkund:innen dafür hätte sie gehabt. Doch mittlerweile haben viele von ihnen die Stadt verlassen, oder sie müssen sparen. Bazdyriewa versteht das. Der Währungsverfall hat dafür gesorgt, dass auch ihr Gehalt mittlerweile fast ein Drittel weniger wert ist. Auch sie tritt kürzer, geht nicht mehr ins Kino oder ins Theater und überlegt sich jede Autofahrt wegen der Benzinkosten genau. Nach der Arbeit kümmert sie sich um ihre Eltern, mit denen sie in einer Eigentumswohnung lebt.

Auf die Frage, wie sie sich auf den Winter vorbereite, antwortet Bazdyriewa mit einem unterkühlten Lachen: «Was sollen wir denn noch machen?» Zwar habe sie im Auto immer Decken sowie Vorräte an Trinkwasser und Benzin. Doch eine Flucht kam für sie nie infrage. «Ich will die Stadt nicht verlassen, ich lebe hier schon mein ganzes Leben lang.» Als Coiffeurin stelle sich am ehesten die Frage, ob die Frauen die Haare kürzer tragen sollten, damit sie schneller trockneten. Oder lang, damit sie sie besser hochstecken könnten, wenn sie tagelang keine Möglichkeit hätten, sie zu waschen.

Einfach nur zuhören

Die Hartnäckigkeit der Bevölkerung zeigt sich im Alltag an kleinen Details. Am Champagner, der im Salon auf den Tag wartet, an dem die Ukraine siegt. An einer Ankündigung, die von aussen auf die gläserne Eingangstür geklebt wurde: «Am Tag, an dem Putin stirbt, alles kostenlos.» Ihren Partner hat Bazdyriewa seit Wochen nicht gesehen, er kämpft an der Front. Sie selbst war in den vergangenen drei Monaten in Irpin, Borodjanka und Andrijiwka, in jenen Kyjiwer Vororten, die unter russischer Okkupation standen und wieder befreit wurden. Wo Menschen wochenlang in Kellern ausharrten. Wo die russischen Soldaten ihre schlimmsten Massaker an der Zivilbevölkerung anrichteten. Orte, die all das abbekamen, was der Hauptstadt erspart blieb.

Bazdyriewa hat dort den Bewohner:innen ehrenamtlich die Haare geschnitten. Den Schmerz, den sie gesehen hat, kann sie kaum beschreiben. Sie erinnert sich an eine Frau, die eines Tages zu ihr in den Salon kam und von der Zeit unter der russischen Okkupation in einem Dorf nahe Kyjiw zu erzählen begann. «Ich habe ihr die Haare gekämmt, während sie angefangen hat zu weinen. Ihr Schwager und ihr Neffe wurden vor ihren Augen erschossen. Die Frau sass in tiefer Trauer vor mir. Dann habe ich gemerkt, dass ihr die Haare ausfielen. Ich habe ihr einfach nur zugehört.»