Ukrainisches Trauma: «Mein Krieg hat im September geendet»
In einem Atelier treffen sich die Witwen von gefallenen Soldaten zum Malen. Doch für die Aufarbeitung der psychischen Folgen des Krieges fehlt es der Ukraine an Unterstützung.
Helles Licht fällt durch das Panoramafenster ins Atelier im 18. Stock. An einem Nachmittag im Februar treffen sich hier in einem nördlichen Bezirk von Kyjiw vier Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten – und die sich doch besser verstehen als irgendjemand sonst auf dieser Welt. «Wir haben alle dieselben Albträume», sagt Alina Karnauchowa, die Initiatorin des Treffens. Sie ist eine von schätzungsweise Zehntausenden, deren Partner:innen im Krieg gefallen sind. «Wir sind so viele.»
Etwas verloren stehen die Frauen neben einem Tisch, auf dem Gebäck liegt und eine Kaffeemaschine lautstark die Espressobohnen mahlt. Mit gedämpfter Stimme fragt Karnauchowa in die Runde, wie es den Anwesenden gehe. Einige zucken als Antwort mit der Schulter. Es vergehe kein Tag ohne den Kummer, ohne Tränen. Und dann seien da auch noch die Kinder. Das Treffen helfe, das Malen hier im Atelier auch.
Die 36-Jährige durchquert den Raum, der zu einem Treffpunkt für die Frauen geworden ist. Zwischen den Leinwänden, Staffeleien und Malutensilien müsse sich niemand zusammenreissen, erzählt Karnauchowa. Dank des grossen Fensters können die Frauen auch dann malen, wenn mal wieder der Strom ausfällt. Und man hat eine gute Sicht auf die Arbeit der Luftabwehr, die beinahe wöchentlich russische Raketen und iranische Kamikazedrohnen am Himmel über Kyjiw abschiesst.
Es bleibt nur der Ring
Unter ihrem militärgrünen Fleecepullover trägt Alina Karnauchowa an einer Kette den goldenen Ehering ihres Mannes immer bei sich. Etwas Physisches, etwas zum Anfassen, auch wenn der Verlust schwer zu begreifen ist. «Ich habe in den vergangenen Jahren sehr viele Freunde verloren», sagt sie mit flacher Stimme. «Aber als mein Mann Serhei am 27. Mai bei Isjum starb, ist meine Welt zusammengebrochen.»
Raketen, Explosionen, Sirenen – was mittlerweile auch für die Menschen in der West- und der Zentralukraine zum Alltag gehört, erlebt Karnauchowa schon viel länger. Sie stammt aus dem Oblast Donezk, wo der Krieg im Jahr 2014 ausbrach. 2020, lange nachdem die Front rund vierzig Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt einfror und der Konflikt für die Menschen in Kyjiw zu einer Nebensache im weit entfernten Donbas wurde, zog Karnauchowa mit Ehemann und Sohn in das südlich gelegene Berdjansk am Asowschen Meer. Heute steht die Stadt, die sich unweit des beinahe völlig zerbombten Mariupol befindet, unter russischer Kontrolle.
Auch deshalb meldete sie sich drei Monate nach dem Tod ihres Mannes – ein bekannter ukrainischer Sportler und Gewinner mehrerer Wettbewerbe im Powerlifting – selbst bei den Streitkräften. Seither ist sie in einem der Hauptquartiere in der Region Dnipro für die Finanzen zuständig. «Es liegt auch in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass unsere Männer nicht umsonst gestorben sind», sagt sie.
Als Karnauchowa begann, über ihre Gefühle und ihre Wut auf Facebook zu posten, taten es ihr andere gleich. «Zusammen ist es einfacher, mit dem Verlust umzugehen und diesen Schmerz zu überleben», erzählt sie. Im Herbst entstand in der losen Facebook-Gruppe von Hinterbliebenen die Idee, einen Malkurs zu veranstalten, eine Art Kunsttherapie. «Es ist sehr schwierig, in dieser Situation frei aus dem Kopf zu malen, deshalb nehmen alle eine Vorlage, ein Foto oder Bild, und malen dann dieses Motiv», erklärt Kunstlehrer Oleg Jurow, der sein Atelier für kostenlose Workshops zur Verfügung stellt.
Als Mentor führt er die Frauen durch den Entstehungsprozess ihrer Kunstwerke, von der Auswahl der Farben und Materialien bis zur Entwicklung von Techniken und Stilen. Damit jede Frau ein Bild malt, das ihre eigene Geschichte und ihre Beziehung zu ihrem Partner widerspiegelt. Er kramt eine Metallbox hervor und zeigt einige der alten Fotos und Postkarten, die als Modell verwendet werden. Helle Farben, Blumenmuster, poetische Motive, damit einen die düsteren Gefühle nicht auch noch auf der Leinwand einholen. «Es ist ein gutes Gefühl, in so einer Situation kreativ zu sein und etwas zu erschaffen», sagt Jurow. «Etwas zu erschaffen, wenn man so viel verloren hat.»
Irgendwann, erklärt der Kunstlehrer, sollen die Bilder, die die Frauen in seinem Atelier gemalt haben, in einer Ausstellung zu sehen sein, die den vielen Liebesgeschichten gewidmet ist, denen der Krieg ein Ende gesetzt hat. Die Frauen wollen das Projekt auch an anderen Orten umsetzen, in Irpin etwa. Doch dafür fehlen derzeit noch die finanziellen Ressourcen. Zu Beginn stellte die ukrainische Firma Rosa einmalig einen Grossteil der Kunstmaterialien kostenlos zur Verfügung. Nun ist die Gruppe auf der Suche nach weiteren Sponsoren.
Keine Nachrichten mehr
Wiktoria Lisanowa hat als Vorlage das Bild einer Frau gewählt, die mit angezogenen Beinen dasitzt, das Gesicht von den Haaren verdeckt. «Ich habe in ihr eine Frau gesehen, die sehr einsam und traurig ist, aber auch liebevoll und romantisch», erzählt die 29-Jährige mit monotoner Stimme. Auch an ihrem Hals baumelt an einer Kette der Ehering des Verstorbenen. «So war ich auch mal mit meinem Mann. Jung, romantisch, verträumt.» Ihre braunen Augen wirken leer, ganz anders als auf Fotos von vor einem Jahr. Auf ihrem Facebook-Profil sind die Bilder aus einer glücklicheren Zeit noch immer zu sehen. Wie ihr Mann Witali die Arme um sie legt. Nur das Profilbild hat Lisanowa mittlerweile auf Schwarz geändert.
Seit dem Tod ihres Mannes lebt die zweifache Mutter mit ihren beiden Töchtern alleine in dem Haus in der Region Tscherkassy. Die Frauen hier sind für sie zu einer zweiten Familie geworden. «Die anderen Leute verstehen mich nicht. Sie fragen mich höchstens, wie lange und wie viel ich noch über meinen Mann reden werde», erzählt sie. Es sei beängstigend, von einem Tag auf den anderen alleine dazustehen, ohne die Unterstützung des Partners, der gemeinsame Lebensplan dahin. Ohne Anleitung, wie man sich ein neues Leben aufbaut, während jeden Tag so vieles im Land zerstört wird.
Hin und wieder denke sie auch an die Witwen der russischen Soldaten, für die sie kein Mitleid, nur Verachtung übrighat. «Die Männer dieser Frauen morden, vergewaltigen und rauben in einem fremden Land», sagt sie. «Sollte die Ukraine einen Teil der besetzten Gebiete aufgeben, frage ich mich, wofür so viele Menschen gestorben sind. Dann hätte doch mein Mann glücklich weiterleben können.»
Ihr Mann Witali kämpfte bereits im Jahr 2014 im Donbas, ein Jahr später kam er als Veteran nach Hause. «Es war schwierig für ihn, in sein altes Leben zurückzukehren», erzählt Lisanowa. Er habe es trotzdem geschafft. Doch als Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 überfiel, zögerte er nicht und meldete sich freiwillig. «Diejenigen, die bereits 2014 gekämpft haben, wussten, dass der grosse Krieg kommen würde», sagt sie. Ihr Mann wurde am 12. September im Oblast Donezk verwundet und verstarb sechs Tage später in einem Krankenhaus in Dnipro.
Die jüngere Tochter spiele zwar, aber jeden Abend weine sie wegen ihres Vaters, erzählt Lisanowa. Die ältere spreche kaum noch. «Die Kinder wollen nicht akzeptieren, dass er gestorben ist. Sie wollen sein Grab nicht besuchen.» Auch sie selbst erkennt sich seit dem Tod ihres Mannes nicht wieder. Nachrichten schaut Lisanowa seit Monaten nicht mehr, und sie wisse auch nicht, was derzeit an der Front passiere. «Mein Krieg hat vor fünf Monaten geendet, im September», sagt sie.
So wie die anderen Frauen muss auch sie sich um Formalien kümmern. Etwa die Auszahlung einer Halbwaisenpension, die ihren Töchtern zusteht: siebzig bis achtzig Prozent des Gehalts, das ihr Mann beim Militär verdient hat. Doch die Dokumente dafür konnte sie erst vor wenigen Tagen einreichen, nachdem sie einen bürokratischen Spiessrutenlauf unternommen hatte. «Mein Mann hat sich in Kyjiw bei der Armee gemeldet, im Oblast Donezk gekämpft und ist in Dnipro verstorben. Aber die zuständige Gesundheitskommission hat ihren Sitz in Winnyzja, in der Westukraine», sagt sie. Gefühlsmässig habe sie keine Kraft mehr, zu kämpfen. Und sie verstehe noch immer nicht, warum es so weit kommen musste.
Auf dem Land ein Tabu
«Die Menschen in der Ukraine weinen und trauern auf dieselbe Art wie Menschen in der Schweiz um ihre Liebsten», sagt Witali Panok, der Leiter des ukrainischen Instituts für Methodik der angewandten Psychologie und Sozialarbeit, das Konzepte für Psycholog:innen in der Ukraine entwickelt. «Es gibt keine nationalen Unterschiede, wenn wir über Trauer sprechen. Allerdings kommt in der Ukraine noch eine starke emotionale Belastung hinzu – die Stromausfälle, die Geräusche von Explosionen in der Ferne und die ständige Angst, dass es einen selbst treffen könnte.»
Egal ob Flucht, Raketen oder der Tod eines geliebten Menschen – die meisten, die heute in der Ukraine lebten, hätten durch den Krieg ein Trauma erlitten, so Panok. «Ein Grossteil der Menschen wird früher oder später einen Weg finden, um mit dem Erlebten umzugehen.» Doch rund zwanzig Prozent der traumatisierten Menschen benötigen psychologische Hilfe. «Leider ist das schwierig, wenn die Menschen in kleineren Dörfern leben, wo es schlichtweg an Fachpersonal fehlt», sagt Panok. Ausserdem sei die Inanspruchnahme von Hilfe gerade abseits der urbanen Zentren noch immer ein Tabu. Dabei wäre sie wichtig, um Prävention zu leisten. Suchtprobleme wie Alkoholismus oder Aggression gegen sich selbst und andere – all die Probleme, die bereits vorhanden waren, werden sich durch den Krieg verschärfen.
Malkurse wie der in Kyjiw könnten sich positiv auf die Frauen auswirken, das Gefühl vermitteln, dass man nicht allein sei. Doch sie seien nicht mit einer «echten Kunsttherapie» zu verwechseln. Abgesehen von gemeinnützigen Projekten wie diesem, das genuin aus einer Gruppe von Betroffenen heraus entstanden sei, sei eines der grössten Probleme in seinem Fachgebiet derzeit, dass es in der Ukraine noch immer keine staatliche Lizenzierung für Psychologen und für die angebotenen Therapien gebe. «Im Grunde kann sich hier jeder ein Diplom ausdrucken oder irgendeinen Onlineworkshop anbieten», erklärt Panok. «Leider bedeutet der Krieg auch, dass einige in diesem Bereich finanziell stark profitieren werden.»
Ekaterina Borisenko hätte nie gedacht, dass sie selbst einmal Betroffene sein würde. Schliesslich war sie es, die als gelernte Psychologin im Jahr 2014 auf eigene Faust und als freiwillige Helferin die Familien der verstorbenen Soldaten beraten hat. Die vielen, die jemanden verloren haben, und jene, die aufgrund des Krieges zu Invaliden wurden. «Ich dachte nicht, dass mich der Tod meines Verlobten komplett zerstören würde», sagt die 32-Jährige mit den langen, dunkelbraunen Haaren. Sie kämpft mit den Tränen.
Am 27. Februar, an einem der ersten chaotischen Tage des Krieges, wurde ihr Verlobter in Kyjiw angeschossen, und eineinhalb Monate und achtzehn Operationen später erlag er seinen Verletzungen. Borisenko hat bis heute keine Gewissheit über das Geschehen zu jener Zeit, als überall in der Hauptstadt Militärcheckpoints errichtet und an jeden, der wollte, Waffen verteilt wurden. Die Untersuchungen laufen noch.
«Alles spricht dafür, dass er von russischen Saboteuren angeschossen wurde», erzählt sie. Doch der einzige Augenzeuge kämpfe mittlerweile selbst bei Bachmut und sei nur selten erreichbar. Zehn Monate sind seit dem Tod ihres Partners vergangen. Sie zeigt das Bild, das sie gemalt hat. Es zeigt ein kleines Mädchen, das mit gesenktem Kopf vor einer Blumenwiese steht. «Leider haben wir kein Kind. Dafür hatten wir keine Zeit mehr.»