Durch den Monat mit Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (Teil 1): Wie ticken denn Coronaleugner:innen?
Die Basler Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben die Welt von Querdenkerinnen und Kämpfern gegen den Genderstern erforscht. Dabei sind sie auf einige Überraschungen gestossen.
WOZ: Frau Amlinger, Herr Nachtwey, in Ihrem neuen Buch, «Gekränkte Freiheit», nehmen Sie die Bewegung der Coronaleugner:innen unter die Lupe. Was hat Sie am meisten überrascht?
Carolin Amlinger: Fast keine:r der von uns Befragten verstand sich selbst als rechts oder autoritär. Sie sahen sich vielmehr als liberale, aufgeklärte Menschen, allenfalls als gemässigt konservativ. Wir haben unsere Gesprächspartner:innen zuerst auch nicht als aggressiv erlebt. Erst im Verlauf der Interviews lief ihre Kritik aus dem Ruder, quasi in Echtzeit konnten wir den «Drift» ins Autoritäre beobachten – bis hin zu gewalttätigen Rachefantasien.
Oliver Nachtwey: Wir haben auch deshalb weitergeforscht, weil sich die vorherrschende Vorstellung rasch als falsch herausstellte, dass das alles Rechte seien. Mit dem klassischen Begriff des «autoritären Charakters», wie man ihn aus der Kritischen Theorie kennt, konnten wir das Phänomen nicht mehr fassen. Wir haben diese Leute darum «libertäre Autoritäre» genannt.
Können Sie das etwas ausführen?
Amlinger: Für das klassische autoritäre Syndrom fehlen die Identifikation mit einer Führerfigur oder auch stark konventionelle Wertvorstellungen. Die Befragten entstammen oft alternativen oder liberalen Milieus und legen grossen Wert auf individuelle Selbstbestimmung, verwahren sich allerdings gegen jede äussere Einschränkung, etwa gesellschaftliche Solidarität. Zugleich fanden wir aber viele klassisch autoritäre Phänomene vor: Stereotypisierung, Destruktivität oder Zynismus, aber auch eine starke Projektion innerer Vorgänge auf klar umrissene Feindgruppen.
Worauf führen Sie diese Veränderung gegenüber dem autoritären Charakter zurück, wie ihn etwa der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno beschrieb?
Nachtwey: Ab den siebziger Jahren hat sich eine neue Subjektivität entwickelt. Zuvor war der Typus des angepassten Angestellten dominant: Alle wollten einen VW Golf, nach Rimini in den Urlaub und, wenn man es etwas besser hatte, den gleichen Partykeller. Das begann sich als Folge der 68er-Bewegung, die sich auch gegen den kleinbürgerlichen Konformismus auflehnte, zu verändern. Je weiter aber die gesellschaftliche Veränderung in den Siebzigern in die Ferne rückte, desto stärker suchten die Bewegten die Veränderung in sich selbst.
Das heisst?
Nachtwey: Heute ist das ideale kapitalistische Subjekt nicht mehr gehorsam oder angepasst, sondern kreativ, flexibel, innovativ und optimiert. Ich war auf einer Coronademonstration in Zug und war erstaunt: Alle waren durchtrainiert, man sah ihnen geradezu an, dass sie jeden Morgen auf der Yogamatte turnen. Noch mehr als über die geschlossenen Beizen empörten sich viele über die Schliessung der Fitnesscenter.
Das klingt aber wiederum nach angepasster Selbstoptimierung.
Amlinger: Ja, in seiner vermeintlichen Einzigartigkeit bleibt der Einzelne auf Anerkennung angewiesen. Insofern ist es durchaus konform, anders als alle anderen sein zu wollen. Bleibt die Anerkennung verwehrt, wird die Schuld nicht im System, sondern bei sich selbst gesucht. Das haben wir als allgemeine Tendenz beobachtet: Während von den Menschen Eigenverantwortung erwartet wird, fühlen sie sich angesichts der komplexen Welt oftmals machtlos. Sie können nicht so, wie sie wollen. Und diese Kränkung kann ein autoritäres Ressentiment auslösen.
Laut Ihrer Diagnose erfahren viele diesen Widerspruch als Kränkung. Ist das daraus resultierende Gefühl auch an eine linke Ideenwelt anschlussfähig?
Nachtwey: Ich würde die Reaktion eher als romantische Zivilisationskritik bezeichnen. Diese richtet sich gegen die hochindustrialisierte, durchrationalisierte Spätmoderne, die auch einen Verlust von Sinnhaftigkeit und Spiritualität erzeugt, was die Leute korrigieren wollen. Viele Interviewte sahen sich in Einheit mit der Natur, mit einem gesunden Körper gesegnet, dem Corona nichts anhaben kann. Ihre Kritik trifft aber nicht den Kapitalismus, sondern nur bestimmte Aspekte wie den Verlust von «Sinn».
Wie könnte denn die Linke auf diese Kritik reagieren?
Nachtwey: Man muss unmissverständlich festhalten, dass die Bewegung nach rechts offen ist. Gleichzeitig war es nicht sehr hilfreich, dass man die Querdenker:innen umgehend als rechts dämonisiert hat, als sie noch heterogener waren. Der Gesprächsabbruch hat zur Radikalisierung beigetragen: «Wenn ihr mich Nazi nennt, dann bin ich halt einer», hörten wir oft. Statt seine moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen, müsste man eine linke Herrschaftskritik artikulieren und die Bewegung und ihre «ver-rückte» Kritik inhaltlich auseinandernehmen. Das ist ein Kerngeschäft der Linken, auf das sie sich zurückbesinnen sollte.
Carolin Amlinger (38) ist Literatursoziologin an der Universität Basel, Oliver Nachtwey (47) bekleidet an derselben Uni eine Professur für Sozialstrukturanalyse. Ihr gemeinsames Buch «Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus» ist kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienen.