Durch den Monat mit Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (Teil 2): Wie hat sich die «weltbeste Tippgemeinschaft» gefunden?
Statt zusammen einen Tanzkurs zu besuchen, haben Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ein Buch über Querdenker:innen geschrieben. Ein Gespräch über intellektuelle Angleichung, Jack-Wolfskin-Jacken und soziologische Distanz.

WOZ: Frau Amlinger, Herr Nachtwey, wie ist die Idee entstanden, als Paar zusammen ein Buch zu schreiben?
Carolin Amlinger: Soweit das familiäre Alltagschaos es zulässt, tauschen wir uns am Küchentisch natürlich auch über unsere wissenschaftliche Arbeit aus. Ich beschäftigte mich beispielsweise mit intellektuellen Diskursen, die geradezu inflationär eine Einschränkung der freien Meinungsäusserung behaupten. Zur gleichen Zeit hatte Oliver die Coronaproteste empirisch untersucht. Menschen also, die sich ebenfalls fundamental in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlten. Trotz der Unterschiede haben wir viele thematische Überschneidungen erkannt. So ist die Idee für das gemeinsame Buch herangereift.
Oliver Nachtwey: Wir stehen permanent in einem intellektuellen Austausch. Uns verbindet ein grosses Interesse am Marxismus, an der Kritischen Theorie und an der Arbeiterbewegung. Wir haben uns das allererste Mal verabredet, um über «Geschichte und Klassenbewusstsein» des ungarischen Philosophen Georg Lukács zu sprechen.
Amlinger: Das haben wir an dem Abend dann aber nicht getan (lacht).
Sie schreiben auf Twitter von der «weltbesten Tippgemeinschaft». Das klingt sehr harmonisch. Bestand nie die Gefahr, dass Sie sich während des Schreibens zerstreiten?
Amlinger: Der Verlag und die Agentin haben tatsächlich die Sorge angedeutet, ob sie am Ende nicht nur einen Streit zwischen Autor:innen, sondern auch noch unsere Scheidung moderieren müssen (lacht). Im Ernst: Man ist als Paar konflikterprobt, sodass auch Unstimmigkeiten bei der Arbeit besprochen und gelöst werden können. Allerdings gab es bei der Fertigung des Buches dann erstaunlich wenige Konflikte, oder?
Nachtwey: Ich fand den Prozess für die Beziehung sogar bereichernd.
Amlinger: Ja, manche besuchen einen Tanzkurs, wir haben zusammen ein Buch geschrieben. Die Gespräche und das kollaborative Denken stiften auch Bindung. Während sich andere Paare äusserlich angleichen und irgendwann dieselben Jack-Wolfskin-Jacken tragen, haben wir uns einander vielleicht intellektuell noch weiter angenähert.
Hat sich das positiv auf das Buch ausgewirkt?
Nachtwey: Das Buch entstand wirklich in einem gemeinsamen Prozess. Bei einem Paar sind die Schamgrenzen viel tiefer als bei beruflichen Partnerschaften, man kann den anderen auch zum zehnten Mal anrufen, wenn man im Text nicht weiterkommt. Wir haben beim Schreiben die Kapitel zunächst aufgeteilt. Der andere durfte sie dann umschreiben und umstrukturieren, damit die Architektur des Buches stimmig blieb. Dadurch ist nun auch die Zurechenbarkeit der einzelnen Kapitel stark verdünnt. Auch stilistisch ist es ein eigener Ton geworden, der sich von unseren jeweiligen Schreibweisen unterscheidet.
Wenn man jetzt dennoch auf den Differenzen bestehen will: Welche sind das? Oder denken Sie nur noch im Kollektiv?
Amlinger: Wir sind uns politisch schon häufig einig. Oliver kommt aber etwas mehr aus dem angelsächsischen Marxismus, ich aus der Kritischen Theorie. In meinem Philosophiestudium habe ich mich viel mit Georg Friedrich Hegel beschäftigt, das hinterlässt unweigerlich Spuren. In meinen Texten «erscheint» oft etwas oder aber wird «aufgehoben». Da mosert Oliver schon gern herum, und das nicht zu Unrecht, ich würde mal wieder «hegeln». Das hat mein oft unbewusstes Fundament in der dialektischen Philosophie stärker ins Bewusstsein geholt.
Nachtwey: In der Lebensorganisation unterscheiden wir uns stärker. Carolin schreibt etwa gerne schon um halb sechs Uhr morgens, ich brauche dann erst einmal einen Kaffee. Aber wir sind natürlich auch in theoretischen und politischen Fragen nicht in jedem Detail gleicher Meinung.
Sie haben an der Frankfurter Buchmesse Ihr Buch vorgestellt. Danach haben Sie, Frau Amlinger, geschrieben, in Ihrem Mailaccount habe sich ein «Höllenschlund» geöffnet. Wurden Sie als Frau besonders heftig angefeindet?
Ja, ich wurde vor allem sexistisch beleidigt und als dumm beschimpft. Die Schreiben waren viel ausfälliger als die, die Oliver erhielt. Auch er bekam beleidigende Mails, bei ihm spielten allerdings antiintellektuelle Ressentiments eine tragende Rolle: Er sei der elitäre, dekadente Professor, der nun den Menschen erzählen wolle, wie sie sich zu verhalten hätten. Mir wurde als Frau die Kompetenz abgesprochen, er wurde wegen seiner Kompetenz kritisiert. Aber so haben die Trolls letztlich die Thesen aus unserem Buch bestätigt.
Wie gehen Sie mit der Hetze um?
Amlinger: Wir waren darauf vorbereitet und versuchen, eine soziologische Distanz zu wahren, um die Angriffe nicht zu sehr an uns heranzulassen. Diejenigen, die uns beleidigt haben, haben das Buch ja oft gar nicht gelesen, allein wegen des Titels «Gekränkte Freiheit» mussten sie sich aggressiv abreagieren. Aber klar, in der Intensität geht das schon nicht vollständig an einem vorbei.
Carolin Amlinger (38) und Oliver Nachtwey (47) erziehen gemeinsam einen Sohn im Kindergartenalter. Sie haben sich in Trier kennengelernt und waren, bevor sie nach Basel kamen, gemeinsam in Frankfurt am Institut für Sozialforschung.