Literatur: Sinnsuche in Berlin

Nr. 44 –

Als der deutsche Autor Daniel Kehlmann kürzlich von der «New York Times» nach empfehlenswerten Berlinromanen gefragt wurde, wollten ihm fast nur Schriftsteller einfallen: Alexander Döblin («Berlin Alexanderplatz») natürlich, Wladimir Nabokow («Die Gabe») – und für die Gegenwart Thomas Brussig mit «Am kürzeren Ende der Sonnenallee» und Sven Regeners «Berlin Blues». Die einzige Frau in Kehlmanns Männerrunde: die grosse Irmgard Keun und «Kunstseidenes Mädchen» von 1932. Es wäre ein Leichtes gewesen, mit Keun auf Calla Henkels gelungenen Berlinroman «Ruhm für eine Nacht» zu kommen.

Er präsentiert gleich zwei kunstseidene Mädchen von heute: Hailey und Zoe, Amerikanerinnen in Berlin, Kunststudentinnen, deren WG-Leben immer mehr zum Kunstprojekt ausufert. Die eine, Hailey, ist besessen von Andy Warhol und Britney Spears und dem medial ausgeschlachteten Mord an einer britischen Austauschstudentin in Italien – und der Hauptverdächtigen Amanda Knox. Zoe ist die grüblerische, unzuverlässige Erzählerin. Auch sie kreist in Gedanken obsessiv um eine Ermordete, ihre beste Freundin aus der Highschool.

Plötzlich ist sich das morbide Duo nicht mehr sicher, ob es auch noch als Anschauungsmaterial für das nächste Romanprojekt der Vermieterin benutzt wird. Diese Paranoia kippt in ein Zerwürfnis, schliesslich in einen Kriminalfall. Langweilig wirds also nie.

Doch das eigentlich Faszinierende an «Ruhm für eine Nacht» ist, wie hier das Berlin der nuller Jahre als Reigen der Selbstinszenierungen gezeichnet wird, als satirisches Sittenbild einer Zeit, die bereits ein Abklatsch der 1990er war, als es viele Kunstfertige und Coole von überallher in die nicht mehr geteilte Stadt zog. Im Roman trifft man sie im Club Berghain, in der legendären Kantine der Volksbühne und an den Partys, die Hailey und Zoe in ihrem Abbruchhaus ausrichten.

Calla Henkel kennt die Welt, über die sie schreibt, gut: Sie betreibt selbst eine Bar in der Stadt und macht, zusammen mit Max Pitegoff, erfolgreich Kunst.  

Buchcover von «Ruhm für eine Nacht»

Calla Henkel: «Ruhm für eine Nacht». Aus dem Amerikanischen von Verena Kilchling. Verlag Kein & Aber. Zürich 2022. 448 Seiten. 31 Franken.