Porträt: Wer geht überhaupt in einen Jazzclub?

Nr. 44 –

Anıl Özdemir hat in Zürich eine Konzertreihe ins Leben gerufen, bisher vor allem für türkische psychedelische Musik. Bald hat er begriffen, wie politisch es ist, über einen solchen Raum zu bestimmen.

Anıl Özdemir
«Musik ohne die Story dahinter, das geht für mich gar nicht»: Konzertveranstalter Anıl Özdemir.

Es ist eine schillernde Gruppe Musiker:innen, die Anıl Özdemir Mitte Dezember auf die Bühne des Zürcher Jazzclubs Moods holen wird. Anthony Hüseyin, nonbinär, kurdischer und arabischer Hintergrund, in Istanbul aufgewachsen und fürs Jazzstudium nach Rotterdam gezogen, mischt Techno und Disco mit traditioneller türkischer Kunstmusik. Nach Hüseyin spielt eine Band, bestehend aus der queeren DJ İpek İpekçioğlu, dem Multiinstrumentalisten Ceyhun Kaya aus der Nordtürkei sowie der Sazspielerin Petra Nachtmanova, die polnische Wurzeln hat und auf Türkisch, Polnisch, Persisch und Russisch singt. Özdemir spricht flink und mit ansteckender Begeisterung, als er von den vier Musiker:innen und seiner Konzertreihe «Psychedelic Music Explosion» erzählt. «Musik ohne die Story dahinter, das geht für mich gar nicht», sagt Özdemir.

Konzerte veranstalten ist für den 36-Jährigen ein Hobby. Özdemir hat an der Uni Zürich über Sportwirtschaft und -management doktoriert und leitet das Center for Research in Sports Administration. Als junger Erwachsener hörte er alles Mögliche, reiste für Konzerte auch mal ins Ausland, aber die Musik, die seine Eltern mögen, hat er erst Jahre später für sich wiederentdeckt. «Als Kind habe ich die romantischen türkischen Lieder mitgesungen, die meine Mutter gehört hat, aber erst später verstanden, was die über Liebe und Sex singen. Auch die Geschichten der politischen Lieder aus den siebziger und achtziger Jahren, als mein Vater in der Türkei verfolgt wurde, habe ich erst später recherchiert.»

Das Revival

Die Story hinter der Musik, damit meint Özdemir: Unter welchen musikalischen und gesellschaftlichen Einflüssen sind die Songs entstanden? Am ersten Abend der Konzertreihe im Moods im vergangenen April hat auch der britische Musikjournalist Daniel Spicer einen Vortrag gehalten. 2017 ist Spicers Buch «The Turkish Psychedelic Music Explosion. Anadolu Psych (1965–1980)» erschienen, das einen Teil des historischen Fundaments für das Revival psychedelischer Rockmusik mit Elementen aus der traditionellen türkischen Musik liefert. Damals mischten Bands die Rockmusik der Zeit mit traditionellen Harmonien und komplexeren Rhythmen sowie dem Klang von Instrumenten wie der Saz, einer entlang der Seidenstrasse verbreiteten Laute.

Am erfolgreichsten ist heute die 2016 in Amsterdam konzipierte Band Altın Gün, die beim jungen europäischen Festivalpublikum genauso ankommt wie in Istanbul oder unter älteren Leuten in der türkischen Diaspora. Altın Gün nehmen türkische Songs aus den siebziger Jahren und polieren die Arrangements zeitgeistig auf, etwa mit griffigen Krautrockbeats. Andere Beispiele sind die Sängerin Gaye Su Akyol oder die Sazspielerin und Sängerin Derya Yıldırım aus Hamburg, die an der zweiten «Psychedelic Music Explosion» im Juni auftrat.

Bis jetzt hat Özdemir im weiteren Sinn türkische Musik veranstaltet, aber für die Zukunft der Reihe ist das Feld weit abgesteckt. Es kann Rock, Jazz oder elektronische Musik sein, die entlang der Seidenstrasse entstanden ist, also auch auf dem Balkan oder in Zentralasien, und heute neu entdeckt wird, so definiert er das. Sein Antrieb sei ganz simpel, erzählt Özdemir, er liebe diese Musik, vor allem ihren Hang zur Melancholie, und er habe Erfahrung in der Organisation und Vermarktung von Events. «Erst mit der Zeit habe ich begriffen, wie politisch es ist, über solche Räume zu bestimmen.»

Mit zwölf das «Manifest» gelesen

Mit den politischen Inhalten der Lieder – die türkische Rockmusik von damals ist nicht selten linksrevolutionäre Protestmusik – war Özdemir von klein auf vertraut. «Ich wurde sehr politisch erzogen, das ‹Kommunistische Manifest› von Marx und Engels durfte ich schon mit zwölf lesen.» Doch der soziale Raum, der sich an einem Konzert für die einen auftut und für andere schliesst, sei ihm erst später bewusst geworden. «Wenn ich als Person mit Migrationsgeschichte und mit Kontakten in verschiedene migrantische Communitys etwas im Moods veranstalte, kommen andere Leute als sonst. Meine Eltern etwa würden von sich aus ins Volkshaus gehen, dort haben wir auch schon ein Familienfest gefeiert, aber nie ins Moods. Leute wie sie würden es normalerweise gar nicht erfahren, wenn eine türkische Sängerin, die sie mögen, im Moods auftritt.»

Anıl Özdemir ist in der Zürcher Innenstadt aufgewachsen; Veranstaltungsorte in der Agglo, die sich an bestimmte migrantische Communitys richten, haben ihn nie wirklich interessiert. Es geht ihm um die Kulturräume im Zentrum, deren Publikum und deren Leitung immer noch selten besonders divers sind. Er wolle diesen Institutionen auch keinen Vorwurf machen: «Wenn ich eine brasilianische Party veranstalten würde, hätte ich auch Mühe, diese Community zu erreichen.» Umso wichtiger sei es, dass Menschen mit Migrationsgeschichte die Kultur in den wichtigen Räumen der urbanen Zentren mitbestimmten.

Die Reihe im Moods geht nächstes Jahr weiter. Letzte Woche hat Özdemir das erste Konzert in Basel veranstaltet, ähnliche sollen in den anderen grossen Schweizer Städten folgen. «Die Idee hat sicher noch Wachstumspotenzial.»

«Psychedelic Music Explosion» im Moods in Zürich: Freitag, 4. November 2022, mit Islandman; Samstag, 17. Dezember 2022, mit Anthony Hüseyin und Karmatürji. Infos: jazzhane.com.