Pop: Weltläufig und heimatlos
Raus aus der musikalischen und gesellschaftlichen Enge: Ein neuer Sampler dokumentiert den Schweizer Underground der achtziger Jahre.
Welche Attitüde im Schweizer Musikunderground der achtziger Jahre vorherrschte, kann man mit dem Beispiel der Basler Band Elephant Château beschreiben. In deren Track «Wir fangen mit Arbeit an» erzählt Sängerin Marlene McCarthy eine surrealistisch anmutende Geschichte von einer Fahrt in einem Regionalzug. Die Ich-Erzählerin ist unterwegs zum Treffen mit ihrem Freund, erzählt vom Vorbeiziehen der Fabriken der Vorstadt, vom Nebeneinander der Passagiere, von Entfremdung und sozialer Kälte. Saxofon, Synthies und ein elektronisches Grundrauschen bilden den Klangteppich, darüber spricht McCarthy einen Stream of Consciousness – der unter anderem von der sexuellen Begegnung mit ihrem Freund handelt: «Warum treffen wir uns immer hier? Es ist wie eine illegale, antifreudianische Liebesaffäre – oder bin ich zu romantisch?», fragt sie in fehlerhaftem Deutsch mit amerikanischem Akzent.
Das Stück und der Monolog der US-Künstlerin McCarthy, die in den achtziger Jahren in Basel studierte und bei dem 1982 gegründeten Kollektiv Elephant Château andockte, sind typisch für die Schweizer Szene jener Zeit, sowohl von der Thematik her (Arbeitswelt) als auch mit ihren vielen Anspielungen an die Kulturtheorie und Geschichte der Avantgarde. In einem Gespräch mit der Schweizer Musikplattform «Fromheretillnow» brachten Johannes Vetsch, Bassist und Keyboarder von Elephant Château, sowie Gitarrist und Keyboarder Max Spielmann den Geist der Szene gut auf den Punkt: «Das übermächtige Gefühl war, neugierig zu sein, auch wenn viele noch in den Siebzigern stecken geblieben waren.» Spielmann fügte hinzu: «Jeder Track, den wir komponierten, war wie ein neuer Kontinent. Wir waren gespannt auf die neuen rhythmischen und klanglichen Möglichkeiten, die wir mit der Elektronik erkunden konnten.»
Arabeske Psychedelik
Dies trifft auch auf weitere Stücke zu, die auf der Ende Oktober erschienenen Kompilation «Senza Decoro. Liebe + Anarchia in Switzerland 1980–1990» vertreten sind. Kuratiert hat den Sampler der Schweizer Produzent und DJ Mehmet Aslan. Neben etwas bekannteren Acts wie Mittageisen, UnknownmiX und Liliput gibt es jede Menge aus jener Ära zu entdecken. Das beginnt gleich eingangs mit einem spirituell anmutenden, rhythmischen Track von Dr. Chattanooga and The Navarones («Kabyl Marabù»), setzt sich fort mit arabesker Psychedelik von Bells Of Kyoto («Asho II») und führt bis zu Vierspurminimalismus von Jürg Nutz und Synthiewelten von Christine Schaller.
Diese Musiker:innen waren neugierig auf die Welt; sie verbanden den Krautrock – das Genre, das sich der sogenannten Weltmusik geöffnet hatte – mit der Haltung des Punk und dem elektronischen Minimalismus des Postpunk. Auch die Einflüsse, die etwa durch die türkische Arbeitsmigration in die Schweiz gekommen waren, sind unüberhörbar, wie unter anderem der Song von Café Türk zeigt.
Wie viel es aus dieser Zeit auszugraben gibt, war schon auf einem 2020 bei Bongo Joe erschienenen Sampler zu hören: «Experimental and Electronic Music from Switzerland 1981–93». Auch einzelne Bands wurden wiederentdeckt, dieses Jahr erschien zum Beispiel eine Kompilation des rein weiblichen Trios Chin-Chin («Cry in Vain»), schon 2020 eine von Elephant Château («Dreamings and Offshore Drilling – Pearls and Turtles»). Auch von Christian Pflugers Kassettentäterprojekt Die Welttraumforscher, in den frühen Achtzigern gegründet, bis heute aktiv und ebenfalls auf «Senza Decoro» vertreten, erscheint dieser Tage ein neues Album («1981», Bureau B).
Frei wie Free Jazz
Der Musiker Mehmet Aslan, Kind einer türkischen Immigrantenfamilie, in Basel aufgewachsen und heute in Berlin lebend, hat den Sampler mit der Neugier eines «Plattendiggers» kuratiert. Zwei Stücke hat er selbst nach- und neu bearbeitet, aus dem Synth-Pop-Stück «Gletscher» (1983) von El Deux hat er einen Housetrack gebastelt, das Synthieinstrumental «Basic Ground Without Voice» (1983) des in Vergessenheit geratenen Projekts KonX interpretiert er in einer Extended Version neu. Die beiden Stücke waren es auch, die ihn den hiesigen Untergrund der achtziger Jahre neu entdecken liessen: «Ich war überrascht zu erfahren, dass solch weltläufige Musik ihren Ursprung in der Schweiz hat. Das hat mich dazu ermutigt, tiefer in die elektronische Musik dieser Zeit einzutauchen», erklärt er in den Liner Notes.
Mit diesen fünfzehn ausgegrabenen Stücken gelingt es ihm, die gesamte Bandbreite der experimentell-anarchischen Musikszene jener Zeit abzubilden. Anarchisch verweist dabei eher auf die Herangehensweise als auf das Politikverständnis: Man war, anders als noch im Punk, in kein rhythmisches und formales Korsett gezwungen, eher frei und befreit wie im Free Jazz. Auch thematisch deckt der Sampler ein breites Spektrum ab, besungen werden die Monotonie der Arbeitswelt («Arbeiter» von Schamanen Circle), Beklemmungen und Angstgefühle («Nightmare» von UnknownmiX) sowie (homosexuelles) Begehren («Labyrinth» von Jürg Nutz). Für die Künstler:innen jener Zeit galt es, in mehrfacher Hinsicht einer Enge zu entkommen: der Enge der musikalischen Traditionen der Schweiz, der Enge des in Teilen uniformistischen Punk, vielleicht auch einer akademischen Enge. Insofern sind diese Stücke heimatlos und weltläufig im besten Sinn.