Shirin Neshat: Erzählen Sie mir Ihre Träume

Nr. 44 –

Der neue Film von Shirin Neshat widmet sich den Traumata einer Iranerin im Exil, aber auch der US-Gesellschaft. «Land of Dreams» spielt in einer dystopischen nahen Zukunft, doch die Bilder sind traumartig verstrahlt, die Geschichte surreal-witzig.

Filmemacherin Shirin Neshat
«Man kann eine Iranerin aus dem Iran bringen, aber nicht den Iran aus einer Iranerin»: Die Filmemacherin Shirin Neshat. Foto: Michael Buholzer, Keystone

«Dieser Film ist eine Warnung», sagt Shirin Neshat. Die iranische Filmemacherin und Künstlerin sitzt vor der Leinwand des Berner Kinos Rex, wo soeben ihr neuer Film «Land of Dreams» gezeigt wurde – eine Art Roadmovie, das durch ein menschenleeres New Mexico führt und mit verstörend schönen Bildern und surreal anmutenden Szenen von einem Amerika der Zukunft erzählt, in dem Träume überwacht werden.

Als Exiliraner:innen in den USA wüssten sie und ihr Mann, Shoja Azari, Koautor des Films, was es bedeute, ständig mit der Angst zu leben, allenfalls überwacht zu werden, sagt die 65-Jährige auf der Bühne. Und noch bevor sie über den Film spricht, adressiert sie die aktuelle Situation im Iran, wo seit der Ermordung Zhina (Mahsa) Aminis durch die Moralpolizei Tausende von Menschen auf die Strasse gehen, um gegen das islamistische Regime zu protestieren. «Was im Iran passiert, ist das Schönste und Mutigste, das zurzeit in der Welt passiert», sagt Neshat. «Es ist eine weibliche Revolution.» Ausserdem sei es ein globales Ereignis, kein lokales. Deswegen bräuchten die Menschen im Iran die Unterstützung von allen. Auf die Nachfrage, wie diese konkret aussehen könnte, antwortet Neshat: «Setzt eure Regierung unter Druck, damit sie die Kontakte zum offiziellen Iran abbricht.» Allerdings ergänzt sie sofort, dass jede Person selbst herausfinden solle, wie sie den Iran unterstützen könne: «Ich bin Künstlerin, nicht Aktivistin.»

Von Sherman bis Lynch

Neshat gehört zu den international bekanntesten iranischen Künstler:innen. 1957 im Iran in eine progressive Familie geboren, ging sie als Siebzehnjährige für ein Kunststudium in die USA. Als 1979 die Islamische Revolution im Iran ausbrach, blieb sie dort. Erst 1990 reiste sie in den Iran zurück – eine Reise, die sie zu ihrer Fotoserie «Women of Allah» (1993–1997) inspirierte, mit der sie international bekannt wurde: Die schwarz-weiss fotografierte Porträtserie zeigt Frauen, deren Hände, Füsse oder Gesichter Neshat mit Gedichten von persischen Autorinnen verzierte. Zwischen dem Tschador und der mit Kalligrafien überzogenen Haut ragen Pistolen oder Gewehre hervor.

Die Arbeit steht exemplarisch für die nachfolgenden: Neshat setzt sich in ihren Foto- und Videoarbeiten und später auch in ihren Spielfilmen mit den iranischen Frauen und deren Stellung in der Gesellschaft auseinander und kombiniert die Bildsprache der traditionellen iranischen Kunst mit ihrem von westlichen Kunstschulen geprägten Zugang. So nennt sie als wichtige Referenzen Cindy Sherman, Luis Buñuel oder David Lynch.

«Meine Arbeit dreht sich um Traumata. Um das Trauma, seine Heimat verlassen zu müssen, um den Schmerz, von seinen Liebsten getrennt zu werden, im Exil zu leben mit all den Unsicherheiten und der Furcht, was mit den Zurückgelassenen geschieht», sagte sie im Frühling gegenüber der «Süddeutschen Zeitung». Darum geht es auch im Spielfilm «Land of Dreams», dem ersten Werk Neshats, in dem sie sich explizit mit den USA beschäftigt. Trotzdem sei dies, wie sie in Bern betont, ein zutiefst iranischer Film, denn, einer Redensart folgend: «Man kann eine Iranerin aus dem Iran bringen, aber nicht den Iran aus einer Iranerin.»

Der Film erzählt von den Traumata einer jungen, in den USA lebenden Iranerin und gleichzeitig von den Traumata der US-amerikanischen Gesellschaft. Wie Neshat ist Simin (Sheila Vand), die Protagonistin von «Land of Dreams», eine Iranerin im Exil. Ihr Vater wurde vom islamischen Regime hingerichtet. Ihr bleiben Fotos sowie eine Kamera, die ihr der Vater, als sie ein kleines Mädchen war, geschenkt hat, mit den Worten, sie werde einmal eine Künstlerin sein.

Doch jetzt, Jahre später, arbeitet Simin für eine US-Behörde, die zum Zweck der Überwachung und der Zensur alle möglichen Daten über die Bevölkerung erfasst, sogar deren Träume. Sie lebt einsam in einem Motelzimmer, fährt jeden Tag mit ihrem alten, dunkelblauen Mercedes durch staubige, verlassene Strassen in New Mexico und klingelt an Haustüren. Dort trifft sie auf einsame, rassistische oder religiös fanatische Menschen, die sie zu ihren Träumen befragt. «Es ist zu Ihrer Sicherheit», versichert sie ihnen.

Die Erzählungen nimmt Simin auf ein Tonbandgerät auf und speist sie an ihrem Arbeitsplatz in einem anonymen Bürokomplex in ein System ein. Was damit passiert, bleibt offen, doch dass es um die Kontrolle der Menschen geht, ist sicher. Neben ihrer Arbeit verfolgt Simin noch ein privates Projekt: Mit ihrer Kamera fotografiert sie die Befragten, verkleidet sich später im Motelzimmer wie sie und spielt sie nach. Sie erzählt deren Träume auf Farsi für die Kamera und lädt die Szenen auf ein soziales Netzwerk.

Neshat zeichnet ein Bild eines totalitären Amerika der nahen Zukunft, ein Amerika, in dem die Menschen nur noch Albträume oder gar keine Träume mehr haben. Immer wieder klingen Parallelen zum Iran an. Allein die wüstenartige Landschaft von New Mexiko, durch die Simin fährt, während persische Musik erklingt, erinnert an den Iran.

Als Simin bei einer Predigt einer christlich-fundamentalistischen Gruppe landet, unterbricht sie den Prediger: «Ich komme aus einem Land, in dem Gott herrscht!» Und während er seine Predigt weiter hält, die Hammondorgelmusik und der Chor der Sängerinnen immer lauter werden, schreit Simin wütend dagegen an. Und dann gibt es noch die geheime iranische Kolonie, in der seit dreissig Jahren ehemalige Widerstandskämpfer leben und weiterhin trainieren. Dorthin wird Simin von der Behörde für einen Auftrag geschickt, findet an diesem Ort aber auch eine Verbindung zu ihrer eigenen Biografie.

Verschlossen, aber entschlossen

«Land of Dreams» ist eine Parabel auf ein Land, in dem Shirin Neshat zwar ihren Traum als Künstlerin verwirklichen konnte, in dem sie aber auch die zunehmende Radikalisierung und den Fanatismus miterlebt. Doch «Land of Dreams» ist keine Dystopie, sondern eine poetische Tragikomödie, gespickt mit surrealen Ereignissen, witzigen Dialogen und satirisch überspitzen Figuren. Grossartig sind Sheila Vand als verschlossene, aber entschlossene Simin sowie Matt Dillon als leicht abgehalfterter Möchtegerncowboy – ohne Pferd, dafür mit Motorrad –, der im Auftrag der Behörde Simin beschützt (oder bewacht), und William Moseley als empfindsamer junger Dichter, der in ihr seine grosse Liebe sieht.

Dabei wirkt der Film selbst wie ein Traum: Gefilmt ist er in wunderschönen, überbelichteten Bildern, verfremdete Klänge auf der Tonspur, Menschen tauchen aus dem Nichts auf, und es passieren Dinge, die nicht aufgelöst werden. Geschrieben hat den Film der im letzten Jahr verstorbene französische Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, der für Grössen wie Luis Buñuel, Volker Schlöndorff, Peter Brook oder Jean-Luc Godard Drehbücher verfasste, basierend allerdings auf einer Foto- und Videoarbeit von Shirin Neshat: 2019 reiste die Künstlerin durch New Mexico und klingelte an den Haustüren. «Ich bin eine iranische Künstlerin und mache eine Fotoarbeit über die Träume der Menschen in den USA», sagte sie und bat die Menschen, ihr ihre Träume zu erzählen. Manche schlugen die Tür zu, andere liessen sich fotografieren und erzählten von ihren Träumen. Daraus entstanden eine Fotoarbeit, eine Videoinstallation und schliesslich der Film, der eine Art erweitertes Making-of dieser Arbeit ist.

Teile der Fotoarbeit sind am Ende des Films zu sehen, wo Simin einen ganzen Koffer voller Schwarzweissfotos spiralförmig im Sand anordnet – eine Idee von Drehbuchautor Carrière, wie Neshat am Ende des Gesprächs in Bern betont. Und dieses Schlussbild sei für sie der Kern des Films, denn: «Wir sind alle aus demselben Staub gemacht – ein kleines Korn im Sand.»

Shirin Neshat: «Land of Dreams». USA/Deutschland/Katar 2022. Ab 24. November im Kino.