Ein Jahr Revolution im Iran: Revolutionäre Normalität

Nr. 37 –

Am 16. September jährt sich der Todestag der Kurdin Mahsa Jina Amini. Was hat die feministische Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» erreicht?

Jedes Mal aufs Neue reagiert der Körper auf die kleinste Erinnerung an den 16. September 2022. Ausgelöst durch eine Melodie, eine bestimmte Zeile aus einem Lied, ein Pflaster auf einem verletzten Auge. Ohne Vorwarnung pure Gänsehaut. Für einen Moment lässt sie einen innehalten. Ohne es zu wollen, ruft sie, ja zwingt sie einem ins Gedächtnis, was in den vergangenen zwölf Monaten seit dem Tod von Mahsa Jina Amini im Iran passiert ist. Wie viel sich verändert hat. Und wie viel mehr nicht.

Zuletzt überraschte mich die Erinnerung wieder unvermittelt an der Kasse eines hippen Wiener Buchgeschäfts. Zwischen Büchern über feministische Erweckungsmomente reflektierter Jungmütter und Konsumverweigerungsmanifesten polyamoröser Grossstädter lag da dieser Bildband. «World Press Photo 2023» stand klein in der Ecke. Auf dem Cover eine junge Frau. Allein sitzt sie auf einem roten Plastikstuhl, mitten auf einem Platz am Teheraner Keschawarz-Boulevard. Hinter ihr drängen sich Frauen im Tschador oder mit Kopftuch vor einer Moschee. Während ihre Gesichter von dem Fotografen abgewandt sind, schaut die junge Frau direkt in Ahmad Halabisaz’ Kamera. Ihr Blick ernst, müde und doch irgendwie herausfordernd. Ihre langen braunen Haare unverhüllt.

Mitten in der Menge. Mitten in aller Öffentlichkeit.

Wut in allen sozialen Schichten

Das ist das «viel», das sich im Iran nach dem 16. September 2022 verändert hat. Das, was die Protestbewegung unter dem Slogan «Frau, Leben, Freiheit» im vergangenen Jahr erreicht hat. Diesen berühmten «point of no return», von dem sie alle sprechen. Dass man im Iran diese Frauen sieht. Mit ihren Haaren. Alt wie jung. Und zwar nicht länger vereinzelt, sondern en masse. Sodass in diesem Gottesstaat mancherorts in manchen Vierteln mancher Städte die Illusion entstehen könnte, dass es sich beim Iran um ein Land handelt, in dem Frauen tragen dürfen, was sie möchten. Ihre Haare bedecken können oder nicht. Lange Übermäntel tragen oder nicht. Ohne dass jemand etwas dazu sagt. Ohne dass ihnen etwas passiert. Ohne dass sie eine Sittenpolizei festnimmt, belästigt, ins Koma prügelt. Sie tötet. Es könnte geradezu der Eindruck entstehen, dass es sich hier nicht um ein theokratisches Regime handelt, das den Frauen seit seiner Gründung 1979 offiziell mit jedem Gesetz den Krieg erklärt hat. Dass das Fahren im Bus, das Sitzen in einem Café oder das Spazierengehen im Park ohne Kopftuch kein Akt des Widerstands ist – sondern langweilige Normalität.

Eine Normalität, die revolutionärer nicht sein könnte. Es braucht einen nuancierten, vielleicht gar wohlwollenden Blick, um das vergangene Jahr im Iran aus dieser Perspektive sehen zu können. Nach dem Tod der 22-jährigen Amini erlebte das Land die grösste Protestwelle seit der grünen Bewegung 2009. Damals waren Millionen Menschen wegen Wahlfälschung auf die Strasse geströmt und hatten letztlich das Ende der Islamischen Republik gefordert. Die meisten von ihnen gehörten einer jungen und urbanen Intelligenzija an. Dieses Mal hat die Wut die gesamte Gesellschaft ergriffen, quer durch alle Ethnien, Religionsgruppen, sozialen Schichten. Fast jede iranische Familie konnte sich mit dem Schicksal der jungen Kurdin identifizieren, deren Tod die Islamische Republik eher in Kauf zu nehmen bereit war, als ein paar Haare auf ihrem Kopf am Ausgang einer U-Bahnstation zu erlauben. Sie war die eine zu viel. Die Bilder von Frauen, die ihre Kopftücher abnahmen, sie in der Luft schwangen und auf Irans Strassen verbrannten, schafften es auf die Titelseiten internationaler Publikationen. Aus Solidarität schnitten sich Schauspielerinnen und Politikerinnen auf der ganzen Welt Haarsträhnen ab. Mahsa Jina Amini war zur Ikone geworden und der Kampf der iranischen Frauen zu etwas, dem man sich vorbehaltlos anschliessen konnte.

Welche:r standhafte Demokrat:in würde das denn nicht unterstützen können? Menschen, die einem Regime trotz Jahrzehnten der Gewalt mutig die Stirn bieten – was gibt es Erhebenderes? Umso mehr, wenn es dem eigenen Narrativ der unterdrückten Muslimin in die Hände spielt, die sich endlich gegen diese hinterwäldlerische Religion und ihre Bekleidungsvorschriften wehrt. Dass sie nichts mit dieser Erzählung zu tun haben wollen, stellten die Iranerinnen von Anfang an klar: Nicht der Religion haben sie den Kampf angesagt, sondern einem Regime, das die Religion zur Unterdrückung der Menschen missbraucht.

Keine sofortige Umwälzung

In den ersten Monaten sprachen die Euphorischsten – vor allem in der Diaspora – bereits von einer neuen Revolution. Und dieses Mal würde sie nicht von Extremisten gekapert werden, wie es 1979 geschah, als Ajatollah Chomeini und seine Islamisten nach dem Sturz der repressiven Monarchie die Macht im Land übernahmen und einen islamistischen Gottesstaat errichteten. Dieses Mal würde es eine Revolution für «Frau, Leben, Freiheit» werden. Zan, Zendegi, Azadi. Eine feministische Revolution, die Weltgeschichte schreiben würde.

Der deutsch-iranische Politologe Ali Fathollah-Nejad war von Anfang an weniger euphorisch. Er blieb bei seinem Terminus des «revolutionären Prozesses», der von vielen Expert:innen verwendet wird, um die Lage im Iran zu erklären. Dieser Prozess habe mit den Protesten 2017 und 2018 begonnen, sagt er im Gespräch, als vor allem die unteren sozialen Schichten wegen ihrer wirtschaftlichen Unzufriedenheit aufbegehrten. Ein Novum, waren sie doch die einstige Basis des Regimes, die sich nun traute, die Machthaber so offen herauszufordern und Slogans für das Ende der Diktatur zu skandieren. Von diesem Moment an sollten die Abstände zwischen den Protesten im Land immer kürzer werden. Bei jedem noch so vermeintlich kleinen Anlass standen die Menschen seither auf der Strasse und schrien: «Nieder mit der Diktatur!» Und solcherlei Anlässe gibt es viele. Das Land steht politisch, ökonomisch und ökologisch an der Wand. Dass die Diktatur irgendwann zusammenbricht, ist nur eine Frage der Zeit.

Es gelte die aktuelle Bewegung als langfristiges Projekt zu sehen und nicht als einmaliges Ereignis, das rasch zu Ergebnissen führe, wie es westliche Beobachter:innen so gerne hätten, sagt Fathollah-Nejad: «Antiregimeproteste lassen sich nicht notwendigerweise sofort in eine Umwälzung der Verhältnisse übersetzen», so der Politologe. «Wer erwartet hatte, dass die Islamische Republik innerhalb kurzer Zeit fallen würde, hat vieles nicht richtig verstanden.»

Die Bilanz nach zwölf Monaten ist düster: Über 500 Tote, Tausende Verletzte und Verstümmelte, zuweilen 20 000 Inhaftierte und sieben Männer, die im direkten Zusammenhang mit der Protestbewegung hingerichtet wurden. Und das Regime? Das steht. Wird mit offenen Armen in internationale (antiwestliche) Sicherheits- und Wirtschaftsbündnisse aufgenommen, wie diesen Sommer in die Shanghai Cooperation Organisation und in den Klub der Brics-Staaten. Zugeständnisse hat das Regime keine gemacht. Mit voller Brutalität sind die Machthaber vorgegangen – in jeder Hinsicht. Aus Angst vor Ausschreitungen am Jahrestag wurden schon mal präventiv zahlreiche Frauenrechtsaktivistinnen festgenommen, ebenso Angehörige von Menschen, die im vergangenen Jahr von Schergen des Regimes ermordet oder eingesperrt worden waren. Auch Mahsa Jina Aminis Onkel.

Alles beim Alten also? Vielleicht – wäre da nicht diese neue Normalität. Sie ist es, die Irans Machthaber fürchten. Die sie sogar dazu bringt, im öffentlichen Fernsehen ihre Nervosität gegenüber dieser rebellischen Jugend, diesen wehrhaften Frauen und ihren insgesamt wütenden Landsleuten zuzugeben. Es ist das grosse «Trotzdem» einer Bevölkerung, die dem Regime den Mittelfinger entgegenstreckt. Ein Trotzdem, das irgendwann in den Geschichtsbüchern studiert werden wird. Man wird studieren, wie Musiker trotz Berufsverboten ihre Protestlieder anstimmten. Wie Hebammen, denen in die Augen geschossen worden war, trotz ihrer Verletzungen mit Victory-Zeichen ihren Dienst antraten. Wie Frauen trotz verschärfter Hidschab-Gesetze auf das Kopftuch verzichteten. Man wird studieren, wie es Normalität wurde, dass jene, die sie dafür zurechtwiesen, fotografierten, anzeigten, beschimpften oder angriffen – von anderen beschimpft, fotografiert, angegriffen und vertrieben wurden. Aus Solidarität.

Das neue Wir-Gefühl

Es ist eine Solidarität, die sich, wie noch nie zuvor im Iran, intersektional begreift. Zum ersten Mal stellt sich eine Protestbewegung den jahrhundertelangen Verletzungen marginalisierter Gruppen – und erkennt sie als Speerspitze des Widerstands an. Ein neues «Wir» wird hier definiert. Eines, das auch die Diaspora ansteckt, die bereit ist, die Vision eines neuen Iran mitzutragen. Kinder von Exiliraner:innen versuchen, ihr gebrochenes Persisch aufzupolieren, beschäftigen sich zum ersten Mal mit der Biografie ihrer Eltern, lassen sich von ihnen beibringen, «Zereschk Polo», den persischen Berberitzenreis, zu kochen, und lernen die Geschichte eines Landes kennen, das für sie bislang vor allem mit Trauer und Trauma verbunden war.

Zum ersten Mal sind sie bereit, sich damit auseinanderzusetzen, was in den 1980er Jahren passiert ist, als das Regime Tausende Oppositionelle hinrichten liess. Sie gedenken der zehn Bahai-Frauen aus Schiraz, die 1983 wegen ihres Glaubens am Galgen starben. Und erinnern die internationale Community an Terroranschläge auf europäischem Boden, wie jenen auf den kurdischen Politiker Abdul-Rahman Ghassemlu in Wien im Juli 1989, dessen Mörder die österreichischen Behörden später auf Druck des Regimes unbehelligt zum Flughafen eskortierten.

In der Diaspora und im Land selbst findet all das nun Eingang in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft, die 44 Jahre lang nicht nur unterdrückt, sondern auch gespalten und voneinander entfremdet wurde.

Nun ist da ein Band, das nicht so schnell zerreissen wird. Ein neues Wir, das auf Hochtouren an der Vision eines neuen, freien, demokratischen Iran arbeitet. Eines, das für die Machthaber gefährlicher nicht sein könnte. Weil es trotz allem die Hoffnung nicht aufgegeben hat. Trotz all der Toten, trotz Mahsa Jina Amini, Nika Schakarami, Sarina Esmailsadeh, Hadis Nadschafi, Kian Pirfalak, Dschawad Roohi … Auch das ist Teil der Bilanz nach einem Jahr «Frau, Leben, Freiheit»: eine Hartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht – und Schritt für Schritt an einer neuen Normalität arbeitet, die irgendwann auch im Iran langweilige Realität werden wird.