Erwachet!: Neue Mode

Nr. 45 –

Michelle Steinbeck scrollt durch verweinte Gesichter

Ich google Sanatorien, und der Algorithmus schenkt mir passend dazu die neusten Fashiontrends. Zum Beispiel «Crying Make-up»: gerötete Augenpartie und Nase, tränennass glänzendes Gesicht, geschwollene Lippen und verklebte Wimpern. «Wir sehen gut aus, wenn wir weinen», konstatiert die Influencerin Zoe Kim Kenealy im Tutorial. Viele Kommentator:innen stimmen ihr zu: «Ich fühle mich so hübsch nach dem Weinen.»

«Sadness is a trend», bestätigt auch der «Guardian» und erklärt das Sich-verheult-Schminken zum Tiktok-Phänomen der Stunde. Über eine halbe Million Klicks hat die Anleitung, um mit Make-up den Look eines verquollenen Gesichts zu erreichen, «für wenn ihr nicht in Stimmung seid, zu weinen». Die Fans freuen sich: «Sieht aus, als hätte ich mein tägliches Make-up gefunden. Was ist das für ein Lipgloss?» Tatsächlich scheinen sich bei diesem Video die wenigsten für die Produkte zu interessieren: Kommentare wie «Zu aufwendig, ich werde einfach weinen» oder «Ich bin immer in Stimmung zu heulen» überwiegen.

Das Crying Make-up folgt auf etablierte Internettrends wie den #SadGirlWalk oder den sogenannten dissoziativen Schmollmund, auch bekannt als das «Duckface einer nihilistischen Ära» («Vice»). In einer kranken Zeit werden psychische Krankheiten und Traurigkeit ästhetisiert statt kaschiert – warum nicht? Die schwedische Medienwissenschaftlerin Fredrika Thelandersson sieht im Performen der Misere, «dass es den Menschen im Moment nicht so gut geht und sie Unterstützung brauchen». Weil sie diese im Gesundheitssystem nicht bekommen, würden sie in den sozialen Medien Gemeinschaft und Zugehörigkeit suchen. Thelandersson meint: «Man kann sich darüber lustig machen, aber es ist trotzdem irgendwie hoffnungsvoll.»

Dass das Thematisieren von mentaler Gesundheit auch in anderen Kreisen zunehmend normalisiert wird, zeigt etwa ein kürzlicher Post von Kabarettist Gabriel Vetter: ­«Comedy mit einem Augenzwinkern und wenn ich Augenzwinkern sage meine ich das Auge zuckt nervös wegen Stress und Überarbeitung und Erschöpfung.»

Der bestechend simple Style dazu wird derzeit von Fashionistas vorgeführt: T-Shirt oder Kapuzenpullover, zum Vorstellungsgespräch vielleicht auch mal ein Blazer – Hauptsache Hose oder Rock weglassen. Reality-TV-Star Kylie Jenner nennt das «No pants, no problem» und vermarktet so ihre neue Kollektion von Unterhosen, die sie zum Beispiel zur Fashion Week markant über ein paar Strumpfhosen trägt. Die «Vogue» findet das einen «sehr gemütlichen Vibe».

Mich erinnert dieses Outfit vielmehr an die Szene in Lena Dunhams HBO-Serie «Girls», als die Hauptfigur Hannah in schlechtester Verfassung durch die Strassen von New York schlurft. Nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet, ist sie auf dem Weg ins Spital: Aus panischer Verzweiflung vor einer unmöglich zu schaffenden Deadline hat sie sich in jedes Ohr ein Wattestäbchen gerammt.

Die heurigen Herbsttrends spiegeln unmissverständlich den Zeitgeist: Kombiniert ergeben sie den perfekten Look, um in eine Klinik einzutreten. Und wenn da kein Platz mehr frei ist und du dich weiterhin zur Arbeit schleppst, dann gibt er dir wenigstens das tröstliche Gefühl, als wärst du auf dem Weg dahin. Und in den Augenwinkeln glitzerts, auch wenn die Tränen längst versiegt sind.

Michelle Steinbeck ist Autorin mit einem Augenzwinkern.