Erwachet!: Die krasseste Cashcow

Nr. 1 –

Michelle Steinbeck blickt zurück auf Augenringe und pralle Euter

Ein Jahr ist um, und wir schauen zurück; freuen uns an dem, was gut war. Zum Beispiel Augenringe. Extreme Erschöpfung galt im 2021 laut dem «Guardian» als «the year’s hottest look». Während also die Generation Z Schminktutorials verbreitete, die den modebewussten Peers beibringen sollten, wie sie ihre jugendlich nicht existenten Tränensäcke besorgniserregend in Szene setzen, führten die Schönen und Reichen ihre professionell modellierten «extravagant eyebags» über Laufstege und rote Teppiche. Alle anderen durften sich freuen: Für einmal sollte es für das Erreichen des Schönheitsideals reichen, das aufreibende Leben in der Abstiegsgesellschaft weiterzuführen. Permanent Make-up war nie günstiger.

Noch billiger war nur das Geld, das Zentralbanken 2021 weiter grosszügig in den Finanzmarkt pumpten. Auch heuer wird an der Börse jubiliert: «Historisch!», «Rekord!» Und der wirtschaftsphile Schweizer nickt zufrieden, weil er weiss: Das bringt uns allen was. Reichtum ist schliesslich Reichtum, auch wenn er sich in unerreichbaren Höhen verstörend aufbläht wie ein überdimensionaler Zeppelin, der bald die Sonne verdeckt und dem an seiner ungesunden Farbe bereits anzusehen ist, dass er die Welt mit seinem übel riechenden Gas vergiften wird, spätestens in dem Moment, wo Elon Musk ihn mit seiner Rakete pikst. Ein sehr gutes Börsenjahr, wen freuts nicht?

Dass der Finanzmarkt sich von der Realwirtschaft getrennt hat und auch nach der Scheidung keinen Unterhalt zahlen will, während Letztere noch immer an der Krise kränkelt, geht halt schon unter Verleumdung und Cancel Culture. Für einen angenehmeren Abgang gurgeln wir besser die schönen Worte, die Politologe Marc Bühlmann in seinem Jahresrückblick auf watson.ch findet: «Bei der Impfquote und der Anzahl Toten schneidet die Schweiz schlecht ab, bei der Wirtschaft hingegen gut.»

Gut! Aber zurück zur Verpestung: Auch die Landwirtschaft hatte ein prächtiges Jahr, die Zeitschrift «Schweizer Bauer» blickt auf Superlative zurück. So erhielt etwa im Februar eine bereits mehrfach preisgekrönte Schaukuh noch einmal eine höchste Auszeichnung. Und das, obwohl das arme Milchvieh bereits 2017 an den Folgen einer Abkalbung «abgegangen» war. Dass Decrausaz Iron O’Kalibra selig trotzdem einhellig zur «All-Time-Weltsiegerin» gekürt wurde, leuchtet selbst einer ignoranten Städterin wie mir ein. Nicht nur hat diese Kuh einen wahnsinnig imponierenden Namen und zahlreiche mindestens ebenso extravagant benannte Nachkommen (zum Beispiel der Acme-Sohn GS Alliance O’Kaliber, der rote Destry-Sohn GS Alliance O’Kalif, der Sid-Sohn GS Alliance O’Gold oder die Lotus-Grosstochter GS Alliance Lotus O’Kiki-Red), derenthalben ihrer auch liebevoll als «erfolgreicher Stierenmutter» gedacht wird. Kein Wunder, stammt die Tochter von Integrity O’Kitty und dem italienischen Boss Iron doch aus einer mit Topgenetik gezüchteten Kuhfamilie. Wenn ich mir ihren Euter anschaue und die Tatsache, dass sie ihren «Eigentümer:innen» dafür nicht einen Huf an den Kopf gegeben hat, würde ich ihr auch den Friedensnobelpreis umhängen.

Ich jedenfalls sehe mich von O’Kalibra in meinem Neujahrsvorsatz bestätigt: Weniger produktiv sein. Bei 100 000 Kilogramm Milch als Lebensleistung henkts selbst der krassesten Cashcow aus.

Michelle Steinbeck ist Autorin mit Laktoseintoleranz.