Lukas Bärfuss: Auf abschüssigem Gelände

Nr. 45 –

In «Vaters Kiste» erkundet Lukas Bärfuss die prekären Verhältnisse seiner Kindheit. Das führt den Schweizer Autor zur Forderung, das Erbrecht müsse zugunsten der Besitz- und Machtlosen umgestaltet werden.

Lukas Bärfuss
«Meine Eltern hatten mich geprägt durch ihr negatives Beispiel»: Lukas Bärfuss. Foto: Alexander Heimann, Keystone

«Vaters Kiste», das neue Buch von Lukas Bärfuss, trägt keine Gattungsbezeichnung. Seine Prosa vermischt brillant geschriebene biografische Enquête und politische Reflexion in kühner Essayform. Eine für den Schweizer Autor fruchtbare Melange.

Schon in «Koala» (2014) hatte Bärfuss berührend vom Selbstmord seines fünf Jahre älteren Bruders geschrieben, er zog dann dessen Totemtier, den träg-faulen australischen Koala, zur Erklärung bei, um schliesslich die brutale Kolonisierung Australiens zu schildern und westliche «Tugenden» wie Arbeit, Wachstum, Entdeckungs- und Eroberungsdrang anzuzweifeln.

Nach dem Bruderbuch wendet sich Bärfuss jetzt dem vor 25 Jahren verstorbenen Vater zu: Als dieser 56-jährig einem Herzinfarkt erliegt, weilt der Autor in einem Wildreservat im Norden Kameruns. Zurück in der Schweiz, hat er grösste Mühe, überhaupt die Urne des Toten zu finden. Die Erzählung von seiner Herkunftsfamilie verknüpft Bärfuss mit beissender Kritik am Erbrecht und der heiligen Kuh des Privateigentums. Dazu untersucht er den Einfluss von Charles Darwins Evolutionslehre auf die Entwicklung der Gesellschaft.

Ständig in Schulden

Offen wie nie zuvor erzählt der Autor in seiner «Geschichte über das Erben» von den äusserst prekären Verhältnissen seiner Kindheit. Der Vater – «aus rechtschaffener Familie […], das war ein grosses Unglück», wie Bärfuss schreibt – galt als schwarzes Schaf der Familie; er drohte ständig in Schulden, Armut, Kriminalität unterzugehen und sass in Witzwil und Thorberg ein. Für den Sohn hatte er keinerlei Interesse übrig.

Die bald geschiedene, alleinerziehende Mutter ihrerseits rackerte sich lebenslang in schlecht bezahlten Jobs ab und bewegte sich oft auf «abschüssigem Gelände», unter «Dieben, Huren, Schlägern, Betrügern, Zuhältern». Ihr Vater war ein Kind von Fahrenden, das es geschafft hatte, selbstständiger Sattler zu werden. In einem ländlichen Umfeld, wo solche als «Bastarde» verunglimpfte Menschen von den Behörden drangsaliert und eingesperrt wurden, blieb der Grossvater ein «schöner, wilder, ungezähmter Mann», von seiner Tochter heiss geliebt. Diese selbst sah sich als «Rabenmutter» des Erzählers: Als er die Prüfung zum Lehrerseminar besteht, unterschlägt sie kurzerhand die Stipendiengelder und haut damit ab.

Verlass war einzig auf die Grossmutter. «Meine Eltern hatten mich geprägt durch ihr negatives Beispiel», lautet das Fazit des Autors; er vergisst nicht, wie leicht ihm ein ähnliches Geschick hätte widerfahren können: «Mit 25 hatte ich weder Ausbildung noch Zeugnisse, dafür hatte ich einen halben Jahreslohn Schulden.»

Das Einzige, was ihm vom Vater geblieben ist, die ominöse «Kiste», eine ordinäre Bananenschachtel, rührt der Erzähler ein Vierteljahrhundert nicht an. Dessen Erbe – das unter anderem aus vier Jahreslöhnen Schulden bestand – hatte er förmlich ausschlagen müssen.

Erst jetzt, dank Glück, Können und Resilienz ein erfolgreicher Schriftsteller, stellt er sich dem Vermächtnis und examiniert die Kiste. Er findet darin kaum Persönliches, dafür viele Schuldscheine, Abrechnungen, Hassbriefe von Gläubigern an den drei Jahre vor seinem Tod in Privatkonkurs Gegangenen, der lebenslang unter dem Zwang zur Konformität und unter «sozialer Härte und Bigotterie» gelitten hatte.

Die Misere des Sozialdarwinismus

Von der unerbittlichen, nie wehleidigen Darstellung des sozialen Elends seiner Eltern wechselt Bärfuss zum politischen und historischen Nachdenken über das Erben, darüber, was die Menschen, zumal seit Darwins Evolutionslehre und dem schrankenlosen Kapitalismus, künftigen Generationen hinterlassen. Er analysiert die verhängnisvolle Wirkkraft des Sozialdarwinismus und sichtet ernüchtert die Irrtümer der Historiker und Philosophen in den Bänden seiner Bibliothek. Dennoch hält er an der Kraft der Kommunikation als Motor von Veränderungen fest.

Für sein radikales Räsonieren über Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte findet Bärfuss einen klugen Konversationston; das liest sich flüssig und meist schlüssig, wobei Bärfuss die eigene Ratlosigkeit nie verbirgt. Freilich reizt er auch zum Widerspruch, und manch eher platten Gedanken übertüncht er mit süffigen Formulierungen. Der suchende Essayist kann in diesem Text dem glänzenden Erzähler nicht das Wasser reichen.

Seine wichtigste Forderung ist die Neugestaltung des Erbrechts – auf Kosten der schon Besitzenden und zugunsten der Besitz- und Machtlosen: Dazu gelte es, das weithin unhinterfragte Privateigentum zu knacken; dessen Beharrungsvermögen geisselt Bärfuss überzeugend. Konkret wünscht er sich unter anderem eine Wiederbelebung kollektiven Eigentums, wie es Genossenschaften pflegen – was der Autor als junger Ungelernter in einem Buchhandlungskollektiv selbst erlebt hat.

Sein Überflug über die Wüste voller Sorgen unserer Tage mündet im Wunsch, den Nachgeborenen mehr zu hinterlassen als «eine Nichtexistenz, ein Schweigen, das Schweigen der Welt, der Tiere, der Insekten».

«Wie wollen wir leben?»: Vortrag von Lukas Bärfuss zur Verleihung der Ehrendoktorwürde. Montag, 14. November 2022, 17.15 Uhr, Uni Fribourg, Standort Pérolles.

Buchcover von «Vaters Kiste»

Lukas Bärfuss: «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben». Rowohlt Verlag. Hamburg 2022. 96 Seiten. 28 Franken.