Radikal evangelikal: «Wir sind dieser Wahnwelt entkommen»

Nr. 26 –

Sie leben im Wald, meiden Telefone und Verkehrsmittel. Lieber marschieren sie tagelang mit ihrem Esel. Auf öffentlichen Plätzen predigen und psalmodieren sie, bis die Polizei kommt. Begegnungen mit dem skurrilsten Predigerduo des Landes – im Gefängnis, auf Wanderschaft und in seiner Waldhütte.

Vertrieben: Die Gemeinde Untereggen hat den beiden Predigern untersagt, weiter in ihrer Waldhütte zu leben. Foto: Andreas Fagetti

Ein Gefängniswärter schiebt Rolf von Untereggen in den fensterlosen Besucherraum. Klein, hager und bleich erscheint der Prediger mit zerzaustem Bart und schütterem Haar. Lauernde Äuglein hinter dicken Brillengläsern taxieren den Besucher wie durch ein Brennglas. Er intoniert einen Psalm. «Glückselig, der seine Schuld vergisst ...», vibriert die dünne Stimme. Er setzt sich vor die Trennglasscheibe, nimmt den Hörer der Sprechanlage in die Hand und spricht einen Segen: «Vater im Himmel, ich danke dir, dass du Herrn Fagetti zu mir geführt hast. Segne ihn und alle Menschen.» Die Gefängnisordnung gewährt uns an diesem Dezembertag eine Stunde Redezeit.

Aus der Predigerschule geworfen

Es ist umständlich, den Betbruder zu kontaktieren. Der 43-Jährige besitzt und benutzt kein Telefon. Er schreibt Briefe. Viele Briefe. Sätze in einer schönen, rhythmischen Handschrift. «Ich sitze in einem perfekt geordneten blitzblank geputzten Raum mit herrlicher Aussicht auf die fruchtbaren Gefilde des Rheintals und die abschliessende, mächtige Bergkette dahinter. Die Rückwand ist eine einzige grosse Fensterfront. Die Einrichtung besteht aus einem gemauerten Bett mit Matratze, einem angeschraubten Tisch, einem komfortablen Plumpsklo und der Fensterbank, auf welcher ich sitze.»

Rolf von Untereggen heisst mit bürgerlichem Namen Rolf Baur. Im Unterschied zur ersten Geburt erinnert er sich präzis an seine zweite: Am 14. Dezember 1995 warf er sich auf den Boden seines Wohnzimmers und sagte zu Gott: «Mein Leben gehört dir.» Er war dreissig Jahre alt, er strebte, wonach fast alle gieren: nach Selbstbestätigung, Geld, Erfolg, Sex, Liebe. Hin und wieder betrank er sich, manchmal kiffte er.

Sein Start in die Berufswelt glückt nicht, er bricht nach drei Jahren eine Lehre als Monteur ab, er häuft Schulden an, jobbt auf dem Bau und absolviert schliesslich doch noch eine Lehre als kaufmännischer Angestellter. Auch sonst gibt seine Vorgeschichte nichts Spektakuläres her. Er wächst im thurgauischen Amriswil in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Der Vater führt ein Bekleidungsgeschäft, die Mutter ist Hausfrau. Mit der Familie bricht Rolf. Von seinem leiblichen Vater spricht er bloss als Erzeuger. Sein wirklicher Vater ist Gott. Er lebt nach seiner Wiedergeburt bewusst auf der Strasse, findet «eine schöne Gemeinschaft mit Drogensüchtigen und Alkoholikern». Schliesslich will er sich im Berner Oberland in einer Predigerschule ausbilden lassen. Doch Lehrer raten dem übereifrigen Schüler, einen Psychiater aufzusuchen, und werfen ihn nach vier Monaten aus der Schule. Das widerfährt ihm auch bei den Freikirchen, denen er sich anschliesst.

Prediger Rolf sitzt seit vier Monaten im Gefängnis – und hat noch zwei Monate vor sich. Freiwillig hat er die Strafe nicht angetreten. Die Polizei musste ihn zur Verhaftung ausschreiben. Dann türmte er zweimal aus der halb offenen Vollzugsanstalt Saxerriet im St. Galler Rheintal. Dem Leiter des Amts für Massnahmenvollzug schreibt er: «Ich bin Erntearbeiter, die Bauern suchen in der warmen Jahreszeit händeringend Leute, darum bin ich die Strafe nicht angetreten, und als sie mich gefasst haben, wieder geflüchtet und gleich zur Kirschernte. Ich bin gern im Gefängnis, aber im Winter. Dann kann ich beten und meine Schreibarbeiten erledigen.»

Der ungewöhnliche Häftling wird ins Regionalgefängnis Altstätten in Einzelhaft verlegt. Und so sieht es der Prediger: «Was es zur Störung der Anstaltsordnung zu sagen gibt, so war es an und für sich schon ein ungewohntes Bild, dass ein Mann in Krawatte und Schal und in Handschellen gefesselt einmal am Tag für eine Stunde in den eingezäunten Basketballplatz eingeschlossen wurde, um dort für eine Stunde zu spazieren. Umso erstaunlicher ist es, wenn dieser Mann dann auch noch mit Kraft und ungeteilter Freude den Sohn Gottes, Jesus Christus, verherrlicht und mit seinen Liedern die Herrlichkeit Gottes besingt und von Gottes kommendem Reich erzählt.» Rolf von Untereggen verrichtet sein Predigerwerk ohne Rücksicht auf Verluste, mit der «Lautstärke einer Posaune». Und dabei ist er nicht allein.

Wiederholungstäter aus Überzeugung

Er hat einen Knecht und Bruder im Geiste gefunden, Lukas von Mosnang. Kennengelernt haben sie sich in einer Wohngemeinschaft in St. Gallen. In Glaubensangelegenheiten sind sie unerbittlich. Vertreiben die Behörden sie, verwandeln sie sich in Kampfprediger. Als die Polizei und Gemeindearbeiter vor einigen Jahren ihr Lager in einer überdachten Feuerstelle in einem Wald räumten, ihr Hab und Gut und ihre Tiere beschlagnahmten, sie in einem entlegenen Dorf aussetzten, sagten sie sich: «So nicht! Jetzt greifen wir an!» Sie predigten in der Region St. Gallen zwei Wochen lang, Tag und Nacht. Die Polizei rückte 24-mal aus, ehe sie der Prediger habhaft wurde und sie in die Psychiatrische Klinik Wil verfrachtete.

Er wähnt sich in Gottes direktem Auftrag unterwegs. Unbeirrt erfüllt der Prediger seit Jahren seine Mission in den Städten und Dörfern der Ostschweiz. Widerstand bricht ihn nicht, er macht ihn radikaler. Und so ist ein Ende nicht absehbar. Es wird auch künftig Lärmklagen und Hausverbote absetzen. Von Büromenschen, die sich von den Predigern in ihrer Arbeit gestört fühlen, von LadenbesitzerInnen, die um ihre Kundschaft fürchten, von den SBB, die auf Bahnhofplätzen keine lautstarke Mission dulden. Und die Behörden werden handeln, wie sie bisher gehandelt haben: Sie verfügen Wegweisungen, sie büssen, und sobald die nicht bezahlten Bussen eine gewisse Höhe erreicht haben, hat Rolf von Untereggen eine Ersatzfreiheitsstrafe abzusitzen. Wie dieses Mal. Es geht um 5050 Franken unbezahlte Bussen. Der Gefängnisaufenthalt kostet den Staat 26 400 Franken. So kann es ewig weitergehen, denn die Behörden haben nichts in der Hand, solange die Prediger nicht sich selbst oder andere gefährden.

In Sergio Leones Gangsterepos «Once Upon a Time in America» empfangen Gangster ihren Freund vor den Gefängnistoren mit einem Leichenwagen, darin eine nackte Frau in einem Sarg als Empfangsgeschenk. Rolf von Untereggen erwarten vor dem Regionalgefängnis Altstätten am Tag seiner Entlassung ein Esel, sein Betbruder Lukas von Mosnang und ein esoterisch angehauchter Freund mit Kampfhund. Die Prediger benutzen keine öffentlichen Verkehrsmittel und schon gar nicht Auto oder Töff.

Die Gefängnismauern halten stand

Lukas von Mosnang hat drei Tage Fussmarsch hinter sich, durch Schneesturm und Regen. Unterschlupf gefunden hat er bei gastfreundlichen Leuten. Von der Alp Rachlis im Toggenburg ist er ins Rheintal gepilgert. Den Anhänger musste er wegen eines platten Reifens zurücklassen. Eselin Sarai ist durchnässt und erschöpft von der Januarkälte. Die beiden wiedervereinten Prediger umrunden das Gefängnis siebenmal. Es ist eine Szene aus dem Buch Josua, in der das Volk Israel die Stadtmauern von Jericho auf diese Weise zum Einsturz brachte. Die Mauern des Regionalgefängnisses halten den psalmodierenden Predigern stand. Ihre Aktion verstört bloss die Angestellten des Gefängnisses. Eine Stimme dringt aus den Betonmauern: «Hören Sie damit auf!» Auch als Lukas von Mosnang später das Essen für seinen Betbruder und die Gäste auf einem mitgebrachten Grill unter dem Velostand des Gefängnisses zubereitet und schwarzer Rauch in den Himmel steigt, ertönt abermals eine Stimme: «Verlassen Sie das Gelände!» Die Prediger lässt es ungerührt. Sie rösten Brot, schaben Raclettekäse, rüsten Salat und kredenzen Wein.

Nachdem die Holzkohle, der Grill und die Esswaren in Planen, eine Kiste und in den «Aff», den alten Militärrucksack, verpackt und auf dem Rücken von Sarai festgezurrt sind, setzt sich der Tross in Bewegung. An diesem kaltfeuchten Sonntag begleite ich die Prediger auf ihrer Reise zu ihrer in abschüssigem Gelände gelegenen Waldhütte im Tobel der Goldach. Dreissig Kilometer liegen vor uns – über den Ruppenpass nach Trogen, durchs Appenzeller Vorder- und Mittelland hinunter zur Goldach. Bald liegt Altstätten unter uns. Auf halber Passhöhe sinkt die Eselin entkräftet vor einer Remise auf den Boden und rührt sich nicht mehr.

Von Mosnang entdeckt in der Remise einen Handwagen, findet den Besitzer, einen Bauernjungen, und leiht sich das Gerät gegen ein Depot von fünfzig Franken. Befreit von der Last, lässt sich Sarai zur Weiterreise über die steilen Rampen bewegen. Jetzt sind die beiden bärtigen Prediger in den dunkelblauen Filzmänteln die Lastesel.

Der 31-jährige Lukas von Mosnang überragt mich um Kopflänge. Er ginge als Reisläufer durch, wären da nicht diese sanften Augen. Der Prediger heisst mit bürgerlichem Namen Lukas Egli. Seine behütete Kindheit verbrachte er in Goldach am Bodensee in einer gutbürgerlichen katholischen Familie. Vater Handwerker, Mutter Lehrerin, vier Geschwister.

Egli besuchte die Kantonsschule – und brach sie ab. Eine «normale» Arbeitsstelle kam nicht infrage. «Ich sah darin keinen Sinn.» Danach setzte er sich nach Spanien ab. Und dann lebte er am Rand der Gesellschaft, kiffte, hing herum, lernte Frauen kennen. Er sagt über diese Zeit: «Ich empfand diese Geschichten bloss als Ablenkung vom wirklichen Leben.»

Den Verstand verloren?

Lukas Egli kam am 5. Dezember 2001 neu als Lukas von Mosnang auf die Welt, im Zimmer der WG, wo er zusammen mit Rolf und anderen wohnte, oben im St. Galler Aussenquartier Riethüsli, in einem heruntergekommenen Bauernhaus. Die Heilige Schrift lag vor ihm. «Eine Stimme in meinem Herzen sagte mir, ich müsse mich entscheiden und umkehren zu Gott.» Nach seiner Bekehrung schöpften seine Eltern Hoffnung. «Im ersten Moment haben sie sich gefreut», erzählt er. Doch die starke Überzeugung ihres Sohns versetzte sie zusehends in Sorge. Sie suchten Rat bei einer Ärztin. Hatte ihr Sohn den Verstand verloren?

Er begann, mit seinem geistlichen Mentor Rolf von Untereggen in der Region zu predigen. Es kostete ihn Überwindung. «Denn eigentlich sind wir zurückhaltende Menschen.» Manchmal habe er sich stundenlang auf einem Platz rumgedrückt, ehe er sich ein Herz fasste und lautstark das Wort Gottes verkündete. Wie von Untereggen kennt er deswegen das Gefängnis von innen.

Die Prediger nehmen die Eberfelder Bibel, eine wortnahe deutsche Übersetzung aus dem vorletzten Jahrhundert, beim Wort. Wer Gottes Wort lese und lebe, sei ihr Bruder, sagt von Mosnang. «Viele bekennen sich dazu, in ihren Taten verleugnen sie es.» Aber jeder, der es lebe, werde einmal «hundertfältig» belohnt. An Gottes Wort zweifelt er nie. Nur manchmal sei er sich nicht ganz so sicher, was Gott mit ihm vorhabe.

Von Mosnang ist nicht gern allein. Er sei eigentlich gesellig und sehne sich nach Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, nach einer Familie und Kindern.

Wenn sie nicht beten oder von der Bibel inspirierte Lieder vortragen, halluzinieren sie ihre grosse Vision: eine religiöse Gemeinschaft unter Führung von Rolf von Untereggen, der sich Reiche und Arme anschliessen, die ihr Geld in die Gemeinschaftskasse geben.

«Dann schmoren Sie in der Hölle!»

Die beiden lehnen alles ab: Das «gekaufte» Schulsystem, das die Kinder verderbe, dem wahren Leben entfremde und zu Knechten der Wirtschaft forme. Sozialhilfe, AHV, Sozialversicherungen – alles Teufelszeug. Sie ergeben sich «nicht widerstandslos der Tabletten-, Versicherungs- und Monatslohnkultur». Von Demokratie hält Rolf von Untereggen nichts. In einem Brief an die Behörden schreibt der Prediger: «Was nun Ihre Bemühungen zur Wiedereingliederung in eine so krankhafte Staatsordnung, wie es die Demokratie ist, anbelangt, in welcher solche Leute wie Sie und Ihre Konsorten kutschieren, indem Sie das Land durch Irrtum und Betrug herunterwirtschaften, so muss ich Sie leider enttäuschen. Ich werde lieber von einem König regiert, umso mehr, wenn ich erkenne, dass seine Gesetze gerecht sind, seine Staatsführung den Frieden und den Wohlstand des allgemeinen Volkes mehrt und er ein gerechtes Gericht zu sprechen vermag.»

Weshalb sich ihnen bislang niemand anschliesst, erlebe ich kurz vor der Passhöhe. Ein älterer Herr amüsiert sich über die kuriosen Pilger mit Esel und Handwagen. «Was, zu Fuss bis nach St. Gallen? Was ist der Zweck der Reise?» Da stürmt von Untereggen heran: «Dass Sie unser Gehilfe werden!» Der Rentner tritt verschreckt einen Schritt zurück. Und setzt zu einer Toleranzrede an: «Ich, Ihr Gehilfe? Nein, bestimmt nicht. Jeder soll glauben, was er möchte.» Solches Gutmenschengerede bringt von Untereggen in Rage: «Wenn Sie nicht glauben, schmoren Sie in der Hölle!»

«Ich bin der Herr, er der Knecht»

Auf der Passhöhe ist die Eselin am Ende ihrer Kräfte. Es dämmert bereits. Die beiden Prediger beratschlagen, was zu tun sei. Dabei wird klar, wer hier der Chef ist. Rolf von Untereggen hat mir das Verhältnis erklärt: «Ich rede mit Lukas nur in Befehlsform und sage nie bitte. Er bittet mich. So wie der Mann das Haupt ist und das Weib ihm untertan, so bin ich der Herr und er der Knecht.» Aus Ehrerbietung siezen sich die beiden.

Sie reden manchmal in einer eigentümlichen Sprache. Für die Wochentage benutzen sie nicht die üblichen Bezeichnungen. Denn das seien heidnische Wörter. Der Sonntag ist der Erste Tag, der Montag der Zweite. Und so weiter. Lukas von Mosnang ist der praktisch Veranlagte. Der Tagelöhner, Bauernknecht und Alphirt kennt sich mit Tieren aus. Er sucht in der Umgebung einen Landwirt, der das Tier für einige Tage in Pension nimmt, damit es wieder zu Kräften kommt. Während Rolf von Untereggen und ich uns in der Wirtstube ausruhen und der Prediger die verdutzten Gäste segnet, findet von Mosnang einen Bauern, der die Eselin im Stall aufnimmt.

Meine Einladung zu Gerstensuppe und Brot schlagen die Prediger aus. Geschenke nehmen sie nicht an. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie in der warmen Jahreszeit, das Geld geht in eine Gemeinschaftskasse. Der Chef verdingt sich auf Gemüsemärkten und als Erntehelfer. Der Gehilfe steuert als Bauernknecht und Alphirt seinen Anteil bei. Die Prediger sehen sich nicht als Abhängige. «Wenn jemand glaubt, er könne uns unter Druck setzen, hat er sich getäuscht. Wir verrichten unsere Arbeit korrekt und in unserem Tempo.» Und für wenig Lohn. Die Rede ist von fünfzehn Franken in der Stunde. In der kalten Jahreszeit gehen sie keiner Lohnarbeit nach. Dann widmen sie sich dem Bibelstudium, dem Predigen und der Mission.

Fromm wie Lämmer

Noch liegen fünf Stunden Fussmarsch vor uns. Die Wolkendecke reisst auf, schön ist nur der Sternenhimmel. Die Füsse schmerzen. Und dann, kurz vor Mitternacht, nachdem wir die steil ansteigende Goldacherstrasse nach Untereggen keuchend und wortlos hochgetrabt sind, erreichen wir in einer Kurve den Trampelpfad, der hinter einer Leitplanke versteckt im Wald beginnt. Der Pfad führt über einen feuchten Steilhang ins Tobel zur Waldhütte. Vor einigen Jahren haben die Prediger das Häuschen für 2000 Franken gekauft und hergerichtet. Rolf von Untereggen will die Tür öffnen, die sie stets unverschlossen lassen. Aber sie ist von innen verriegelt. Der Prediger hämmert an die Tür und ruft: «Wir sind die Besitzer! Macht auf, ihr habt nichts von uns zu befürchten!» Die Tür knarrt, der verstrubbelte Kopf eines jungen Mannes erscheint im Rahmen. In der Hütte haben sich zwei Obdachlose eingerichtet. Marihuanawolken wabern heraus, es müffelt nach alten Socken. Eingeschüchtert schauen die Rumtreiber den beiden Predigern beim Aufräumen zu. Das Waldhäuschen ist klein. Acht Quadratmeter, ein Tisch, eine Bank, zwei Stühle, ein Schrank, ein Gestell fürs Geschirr, ein Rohrofen. Lukas von Mosnang feuert den Ofen ein, auf dem er das Essen zubereitet. Er tischt Nudeln, Käse und Salat auf. Die beiden Rumtreiber entspannen sich. Einer von ihnen weiss, wie sich die Prediger fühlen. Neun Jahre seines Lebens, sagt er, habe er in Jugendknästen verbracht. Fromm wie Lämmer sitzen sie nun da. Als die Prediger mit der Herrichtung des Nachtlagers beschäftigt sind, kichern sie verlegen. Hauptsache, sie müssen nicht raus in die Nacht. Die Gastfreundschaft schätzen sie, mit dem «religiösen Zeug» können sie nichts anfangen. Später fordert von Untereggen seinen Bruder auf, eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Es ist eine biblische Geschichte. Als wir uns hinlegen wollen, zusammengequetscht auf den Fussboden, sagt von Untereggen zu mir: «Ziehen Sie die Socken aus.» Der Prediger schiebt ein Plastikbecken, gefüllt mit Wasser, heran, kniet sich nieder und wäscht mir die Füsse, so wie Jesus während des letzten Abendmahls seinen Jüngern die Füsse wusch.

Die Nacht ist kalt und kurz. Am nächsten Mittag sind wir bei einer neunzigjährigen Witwe im nahe gelegenen Dorf Untereggen zu einem üppigen Essen eingeladen. Die Prediger besorgen ihr den Garten. Sie scheint die beiden ins Herz geschlossen zu haben. Tags darauf essen wir bei der Bauernfamilie Germann in Goldach, wo die Prediger als Erntehelfer gearbeitet haben. Bauer Sepp sagt beim Mittagessen: «Das sind gute Erntearbeiter.» Rolf von Untereggen nimmt mich an einem Abend mit zu einem Greis. Der ehemalige Totengräber und Eisenleger hat sich vor über vierzig Jahren ein Einzimmerhaus an einem Abhang des Goldachtobels gebaut. Als Rolf von Untereggen obdachlos war und einen Unterschlupf suchte, durfte er unter dem Vordach nächtigen. Der Prediger richtete sich dann in der Nähe in einem verlassenen Bienenhäuschen ein, bis die Behörden es ihm untersagten.

Höllenfantasie

Nach dieser Reise verlieren wir uns aus den Augen. Ein paar Monate später winken sie mir an einem Sommermorgen aus einem Park beim Hauptbahnhof St. Gallen zu. Sie frühstücken auf einer Parkbank. Eine alte Frau stösst dazu, plaudert und streichelt den Esel. Plötzlich, als sei ein böser Geist in sie gefahren, tobt sie wie eine Furie: Der Esel sei doppelt so viel wert wie ein Neger, sagt sie. «Neger! Versteht ihr. Doppelt so viel! Nachts überfallen diese Neger Leute und handeln mit Drogen! Die Schweiz gehört nicht mehr den Schweizern!»

Da mischt sich Rolf von Untereggen ein. Seine Rede für Toleranz schlägt in eine Höllenfantasie um: «Alle Menschen tun Böses, ob sie gelb, weiss oder schwarz sind. Nur Jesus kann uns vor der Verdammnis retten. Die Leute erkennen das nicht, sie leben in einem Wahn. Der Herr hat uns, Lukas und mich, auserwählt, um sein Wort zu verbreiten. Wir sind dieser Wahnwelt entkommen. Und wer Gottes Wort nicht folgt, der wird am Ende der Tage gerichtet werden.»

In den letzten Wochen machte ich mich erneut auf die Suche nach den Predigern – ohne Erfolg. Der Betreiber eines Gemüsestands, für den Rolf von Untereggen länger gearbeitet hat, kann mir nicht weiterhelfen. «Er war mal ein verdammt guter Kerl», sagt er. «Aber dann ...» Er verdreht die Augen und wendet sich ab.

«Sie sind regelmässige Kunden», sagt Benjamin Lütolf, Sprecher der St. Galler Stadtpolizei. Wenn von Untereggen wegen Lärmklagen von PolizistInnen weggewiesen werde, weigere er sich zu gehen. Man müsse ihn schon verhaften, ihm Handschellen anlegen, sage er jeweils. Denn für ihn gelte das Wort Gottes, nicht das der St. Galler Stadtpolizei.

In ihrer Waldhütte dürfen sich die Prediger zwar noch aufhalten, aber nicht mehr wohnen. Das sei zonenwidrig, teilte ihnen die Gemeinde Untereggen mit und verfügte ein Wohnverbot.

Wenn möglich möchten sie nicht fotografiert werden: Die Prediger Lukas von Mosnang (links) und Rolf von Untereggen in der Nähe des Regionalgefängnisses Altstätten.

Das Lebenszeichen kommt per Post: Die Prediger haben ein abbruchreifes Bauernhaus in seine Einzelteile zerlegt, schreiben «Rolf und Lukas, Söhne des Fritz Baur und des Stefan Egli» in einem Brief. Die religiöse Gemeinschaft ist in der Zwischenzeit um ein Pferd gewachsen, und das Haus setzen sie in Neukirch an der Thur, einem kleinen Dorf im Thurgau, wieder zusammen.