Lohn-Preis-Schere: Ein falscher Mythos als Ausrede

Nr. 47 –

Rund tausend Angestellte des öffentlichen Dienstes versammelten sich vergangenen Freitag in Bern, um gegen Reallohnverluste im Zuge der Inflation zu protestieren. Darunter viele Lehrkräfte und in der Pflege Beschäftigte, die gerade in den letzten Jahren unter prekären Bedingungen zur Aufrechterhaltung des Alltags beigetragen haben.

Die bürgerliche Presse reagierte prompt: Der «Bund» warnte vor der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale und holte sich dabei Rückendeckung vom Ökonomen Aymo Brunetti. «Die Löhne sollten nicht überproportional steigen», meint er, weil die Unternehmen dann zur Erhaltung ihrer Gewinne die Preise erhöhen würden, was die gewonnene Kaufkraft wiederum auffressen würde.

Es ist ein altbekanntes Muster: Wenn die Lohnabhängigen einen Teuerungsausgleich fordern, wird von bürgerlicher Seite die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale heraufbeschworen. Bereits 1865 stritten Karl Marx und John Weston um die Frage des Zusammenhangs zwischen Lohn, Preis und Arbeitslosigkeit. Marx argumentierte, dass die Preise nicht von der Lohnentwicklung, sondern von einer Reihe anderer Faktoren abhängig seien: etwa dem Produktivitäts- und dem Geldmengenwachstum oder den verschiedenen Phasen des industriellen Zyklus.

In der Folge wurden Marx’ Argumente mehrfach empirisch gestützt. Eine soeben veröffentlichte Analyse des Internationalen Währungsfonds hat die Lohn-Preis-Spirale auf eine Datenbank vergangener Episoden in fortgeschrittenen Volkswirtschaften angewendet, die bis in die sechziger Jahre zurückreicht. In nur 8 von 79 untersuchten Episoden sind Lohn- und Preissteigerungen über längere Zeit hinweg parallel aufgetreten. Besonders selten tritt dieser Zusammenhang in Zeiträumen auf, die dem jüngsten Muster sinkender Reallöhne und angespannter Arbeitsmärkte entsprechen.

Und doch hält die Mainstreamökonomie am Mythos der Lohn-Preis-Spirale fest. Wieso? Nicht weil sie Lohnerhöhungen als Inflationsrisiko einschätzt, sondern um den Unternehmen die Profite zu sichern. Während oben die Gewinne steigen, wird den Lohnabhängigen Verzicht gepredigt.