Lehrkräftemangel: Falsche Ursachen, verkehrte Schlussfolgerungen

Nr. 32 –

Statt die Gründe für den Mangel an Lehrkräften in der demografischen Entwicklung zu suchen, sollte der Fokus auf die Hauptursache gelegt werden: die neoliberale Bildungspolitik. Einwurf eines Sekundarlehrers.

Das Problem ist nicht neu, die mediale Aufmerksamkeit schon. «Not an den Schulen ist gross», «Der akute Lehrermangel spitzt sich zu» oder «Die nächsten fünf Jahre könnten dramatisch werden», titeln die grossen Medienhäuser. Erfahrene, junge und auch pensionierte Lehrkräfte erläutern in Interviews, wie schlimm es sei, Lehrer:in zu sein. Und spätestens seit Ausbruch der Coronapandemie sind auch von gewerkschaftlicher Seite Klagen und bescheidene Forderungen zu hören.

Wer nun aber gehofft hatte, dass auch die prekären Arbeitsbedingungen mehr öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen, wird enttäuscht: In erster Linie werden die vielen Pensionierungen für das Fehlen von Lehrer:innen verantwortlich gemacht. Und die gleichzeitig steigende Zahl der Schüler:innen verschärfe das Problem. Diese Befunde taugen aber wenig zur Analyse. Sie wollen den Lehrkräftemangel rein demografisch erklären – als hätte die Politik nicht für genau solche Umstände vorzusorgen. Ausserdem bietet diese falsche Logik Anknüpfungspunkte für rechte Politik. So schrieb das «Zofinger Tagblatt»: «Schon 11 400 Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter: Wie die Ukraine-Krise den Lehrermangel in der Schweiz verschärft».

Weiter wird problematisiert, dass viele Lehrpersonen Teilzeit arbeiten. Würden alle ihr Pensum um zehn Prozent erhöhen, wäre das Problem gelöst, hat das Bundesamt für Statistik herausgefunden. Wohin solche Argumente führen können, zeigt die Aargauer FDP, die Mindestpensen vorschreiben will. Da aber die Lehrkräfte primär wegen Überbelastung in tiefere Pensen geflüchtet sind, hätte ein solcher Zwang zur Folge, dass das noch vorhandene Personal verheizt würde.

Grundlegende Widersprüche

Die Überbelastung resultiert aus grundlegenden Widersprüchen des kapitalistisch organisierten Schulwesens und neoliberalen Schulreformen. Der Alltag ist geprägt von Konflikten, das pädagogische Programm gekennzeichnet von stark abgesenkten Leistungsstandards und harten Disziplinarmassnahmen. Am deutlichsten zeigt sich das in sogenannten Brennpunktschulen, wo die Behauptung pädagogischer Ideale in einem von Armut und Zukunftslosigkeit geprägten Umfeld kaum mehr gelingen kann. Ein weiterer Widerspruch ist im doppelten Auftrag angelegt, einerseits zu lehren und andererseits zu selektieren. Zwischen persönlicher Interaktion und bürokratischer Organisation, benötigter Nähe und gebotener Distanz einen Weg zu finden, wird immer schwieriger. Die Durchsetzung der neoliberalen Agenda – Stärkung der Schulautonomie, gesteigerter Wettbewerb zwischen den Schulen, Kürzung der Mittel, Abbau der Schulsozialarbeit – hat den Druck zusätzlich erhöht.

Nun gibt es durchaus Stimmen, die auf die prekären Arbeitsbedingungen hinweisen. Dabei wird jedoch der anstrengende Schulalltag stark auf die erschwerten Umstände der letzten beiden Jahre reduziert. So etwa im «Tages-Anzeiger»: «Zuerst die Pandemie: Fernunterricht, Maskenpflicht, Elternkonflikte. Dann der Ukraine-Krieg: Flüchtlingskinder, Extraklassen, Sprachprobleme.» Erstens hatten die Lehrkräfte mit mindestens der Hälfte dieser Punkte schon vorher zu kämpfen; zweitens wären diese Umstände in einem vernünftig organisierten Schulwesen nicht zur Belastung geworden – und drittens fehlen in dieser Liste die entscheidenden Faktoren, die den Beruf tatsächlich unattraktiv machen.

Eine Befragung der Gewerkschaft Bildung Bern bei rund 2000 Betroffenen im vergangenen März kommt der Wahrheit schon etwas näher. Als wichtigste Anliegen wurden in dieser Reihenfolge genannt: besseres Betreuungsverhältnis, Entlastung der Klassenlehrer:innen, mehr Teamteaching, mehr Unterstützung durch Lehrpersonen der besonderen Förderung, höhere Löhne, mehr ausgebildetes Personal im Kollegium. Kurz: zu viel Aufwand für zu wenig Lohn.

Dass sich aus einer solchen Umfrage so ziemlich jedes politische Programm ableiten lässt, haben bürgerliche Medien in den letzten Wochen bewiesen. Gern wurde betont, dass der Wunsch nach höheren Löhnen erst an fünfter Stelle genannt wurde. Vielmehr mangle es an ausgebildetem Personal. Und wenn doch mal eine Lohnforderung kommt? Man könnte den Klassenlehrer:innen eine zweite Entlastungslektion pro Woche zahlen, rät der «Bund». Angesichts des tatsächlichen Aufwands, neben dem der Unterricht fast zum Nebengeschäft wird, ist das ein Hohn.

Dazu muss festgestellt werden, dass Lehrkräfte in der Regel Mühe bekunden, sich als Lohnabhängige zu begreifen. Das mag an der hohen Identifikation mit dem Beruf liegen oder an der Vereinzelung, die er mit sich bringt. Das Fehlen eines Klassenbewusstseins manifestiert sich in einem tiefen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und schwachen Positionen in Lohnverhandlungen. Dabei wären Lohnerhöhungen ein effektives Mittel gegen den Lehrkräftemangel. Doch auch die Kritik an der hohen Zahl nichtausgebildeter Lehrkräfte kann nicht unhinterfragt in eine politische Forderung überführt werden. Dass Schulleitungen Diplomierte vorziehen und sich Lehrkräfte, die in eine Ausbildung investiert haben, von Quereinsteiger:innen bedroht fühlen, ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Die Realität ist aber, dass der Schulbetrieb, als Folge jahrzehntelang verfehlter Bildungspolitik, ohne solche schlicht nicht aufrechterhalten werden kann.

Leider arbeiten die Gewerkschaften an der Spaltung der Lehrkräfte mit. Bildung Bern etwa meint, «Anstellungen werden in Folge fehlender Qualifikationen zum Blindflug» – und fordert von Quereinsteiger:innen, dass sie «die Ausbildung nachholen, sich weiterbilden» oder halt damit rechnen müssen, dass sie, falls es genügend ausgebildete Lehrpersonen gibt, «eine Schule auch wieder verlassen müssen». Ausdruck einer Gewerkschaftspolitik, die nicht alle Lohnabhängigen vertritt, sondern den Konkurrenzdruck unter ihnen erhöht.

Alles halb so schlimm?

Eine besonders absurde Argumentationsfigur präsentiert die «Aargauer Zeitung»: Die Geschichte einer Lehrerin, die für ihre Klasse vor den Sommerferien Stofftäschli genäht hatte, dient als Illustration für die Freuden des Berufs. Das Kind des Redaktors hatte sein Täschli nach kurzer Zeit verloren, worauf die Lehrerin ihm in den Ferien ein neues nähte. Wenn solche Wunder noch geschehen, kanns um diesen Beruf so schlecht nicht stehen. «Der Lehrerberuf wird schlechtgeredet, eindeutig», schreibt die Zeitung, es drohe «eine sich selbst erfüllende Prophezeiung». Eine übermotivierte Lehrerin soll hier als Beweis dafür dienen, dass die Lehrkräfte nicht wegen der Arbeitsbedingungen, sondern wegen des ewigen Gejammers fehlen. Die Arbeit sei ja gut bezahlt und mache Spass. Und wer diese Einsicht nicht teile, dem sei gesagt, dass «die meisten anderen Berufe auch anspruchsvoller geworden» seien.

In dieselbe Kerbe haut die NZZ. Da werden chinesische Sprichwörter zur Beruhigung empfohlen und Anekdoten erzählt, die die schönen Seiten des Schulalltags hervorheben sollen. Dass es die gibt, bestreitet niemand – nur leider werden sie immer seltener. Das aber liegt primär an der verfehlten Bildungspolitik.

Dominic Iten (31) arbeitet nach dem Studium der Geschichte und Soziologie seit einigen Jahren als Sekundarlehrer im Kanton Bern und als Redaktor bei der Halbjahresschrift «Widerspruch».