Widerstand in Lützerath: Das Dorf am Ende der Welt
In Nordrhein-Westfalen verteidigen Aktivist:innen «Lützi» gegen den Kohletagebau Garzweiler. Das besetzte Gelände stellt sich als praktischer Gegenentwurf der Klimazerstörung in den Weg – und ist dabei längst zum Symbol geworden. Ein Dorfbesuch.
Die Menge im «Ranzigen Aal» tobt. Sprechchöre schallen durch die ungeheizte Halle, in der sich am Samstagabend rund hundert Aktivist:innen versammeln, um sich gemeinsam «Wetten, dass..?» anzusehen. Nicht etwa, weil sie sich für Thomas Gottschalks sexistische Scherze interessieren, sondern weil mit Marten Reiss ein Aktivist aus Lützerath daran teilnimmt. Seine Begleiter:innen singen auch in der Studiohalle Sprechchöre – für mehrere Millionen Zuschauer:innen deutlich zu hören. Schliesslich kürt das Publikum Reiss tatsächlich zum Wettkönig. Das Preisgeld von 50 000 Euro will er der Bewegung zur Verfügung stellen. Später kursiert im Netz ein Foto von Gottschalk, der gemeinsam mit ihm ein Transparent in die Kamera hält. Die Aufschrift: «Wetten dass #LuetziBleibt?!»
Der Tagebau ist das perfekte Sinnbild für die Zerstörungskraft des fossilen Kapitalismus.
In Lützerath wohnten einst weniger als hundert Personen, von denen inzwischen fast alle weggezogen sind. Dafür leben heute weit mehr Aktivist:innen dort. Die meisten von ihnen sind gerade unterwegs zu einem Plenum – egal wann man sie antrifft. Sie sind in unzähligen Arbeitsgruppen organisiert: kochen jeden Morgen und jeden Abend, unterhalten die weitläufige besetzte Fläche, bauen Baumhäuser, betreiben Landwirtschaft – und planen Aktionen und Demonstrationen. Es gibt eine Skatehalle, ein Beachvolleyballfeld, mehrere Aufenthaltsräume. Und an jeder Ecke warmen Kaffee und Tee.
«Wir haben uns einen Raum geschaffen, in dem wir andere Formen des Zusammenlebens erproben können», sagt Alma*, eine Aktivistin, die seit mehreren Monaten hier wohnt. Lützerath sei auch ein Versuchslabor: «Ohne solche Orte, an denen wir uns frei organisieren können, werden wir niemals den Schlüssel zu einer besseren Welt finden», sagt sie. Es ist Sonntagmittag. Gerade findet wie jede Woche eine kleine Demonstration statt, an der auch rund fünfzig Anwohner:innen aus der Region teilnehmen. Weniger als in der Woche zuvor, wohl auch wegen des schlechten Wetters: Der Winter ist angebrochen, der Boden wird zu Matsch, geheizt wird hier fast nirgendwo. Der Ort bietet viele Perspektiven, aber nur wenig Komfort. Alma steht an der «Kante»: wenige Meter vor dem Dorfeingang, wo der Boden steil abfällt in eines der grössten Erdlöcher Europas.
Der Kohletagebau Garzweiler, betrieben vom Energiekonzern RWE, macht es «Lützi» leicht, in dieser Nachbarschaft als Utopie zu erscheinen. Fast bis zum Horizont erstreckt sich die menschenleere Grube, umgeben von steilen Klippen und bewohnt von gigantisch grossen Baggern, die, wenn man sie sich lang genug ansieht, wie Ungeheuer in einem Science-Fiction-Film wirken. Der Tagebau ist das perfekte Sinnbild für die Zerstörungskraft des fossilen Kapitalismus. «Hier sind wir im Herzen des Monsters», sagt Alma.
Allein machen sie dich ein
Lützerath stand nicht immer so nah am Abgrund – der Kohletagebau ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig nähergerückt. Er kriecht gewissermassen durch die Landschaft: Auf der einen Seite der Grube werden Erde und Kohle abgegraben, auf der anderen wird das Loch wieder aufgeschüttet. Bis 2038, dem ursprünglich vorgesehenen Kohleausstieg, sollten neben Lützerath noch fünf weitere Dörfer in der Region zerstört werden – so wie es seit den sechziger Jahren bereits fast zwanzig anderen erging.
«Hier, in diesem Loch, sind mehrere Orte meiner Kindheit einfach verschwunden», sagt Alex. Sie ist in einem benachbarten Dorf aufgewachsen. Als junge Erwachsene zog sie weg und lebte zwanzig Jahre woanders. Weil sie immer davon ausgegangen sei, hier keine Zukunft zu haben; auch ihr Zuhause sollte eigentlich abgerissen werden. «Mein ganzes Leben lang habe ich mich wegen des Tagebaus machtlos und klein gefühlt.»
Als 2018 die mehrjährige Besetzung des Hambacher Forsts ganz in der Nähe brutal geräumt, dafür aber dessen Erhalt beschlossen wurde, habe sie erstmals Hoffnung geschöpft. Sie zog zurück zu ihren Eltern. Und engagierte sich fortan im Kollektiv «Alle Dörfer bleiben», einem Zusammenschluss von Anwohner:innen. Ihr Kampf habe vor rund zwei Jahren richtig Fahrt aufgenommen, als eine Verbindungsstrasse zwischen Lützerath und dem Nachbardorf Keyenberg abgebaggert wurde – eine symbolische rote Linie.
Die Besetzung nahm ihren Anfang; immer mehr Klimaaktivst:innen reisten an. Alex sagt, die Anwohnerinnen und Anwohner seien ihnen gegenüber zunächst skeptisch gewesen. Aber: «Uns allen war klar, dass wir alleine keine Chance haben.» Die erfolgreiche Vernetzung sei entscheidend gewesen, meint auch Aktivistin Alma: «Hätten wir uns nicht mit den Leuten vor Ort zusammengeschlossen, die teils seit Jahrzehnten gegen RWE kämpfen, wären wir niemals so weit gekommen.»
Umstrittene Gutachten
Inzwischen hat die abgelegene Ortschaft weit über linke Kreise hinaus Bekanntheit erlangt. Durch die Aktivist:innen ist sie zum Symbol geworden. Alle grossen Medien Deutschlands haben darüber berichtet. Die Bundesregierung beschäftigt sich mit Lützerath; die in Nordrhein-Westfalen an der Regierung beteiligten Grünen beissen sich daran die Zähne aus. Und das Energieunternehmen RWE zeigt sich als das, was es ist: ein profitgieriger Milliardenkonzern.
Der Widerstand zeigt Wirkung. Schon mit dem Koalitionsvertrag 2021 wurde beschlossen, mehrere bereits zum Abriss freigegebene Dörfer rund um Lützerath doch zu erhalten. Zuletzt haben Bundes- und Landesregierung im Oktober angekündigt, den geplanten Kohleausstieg um acht Jahre auf 2030 vorzuziehen. Im Gegenzug werden aber zwei Blöcke des nahe gelegenen Kohlekraftwerks Neurath nicht wie geplant auf Ende des Jahres heruntergefahren, sondern bleiben bis 2024 in Betrieb. Das heisst: In den nächsten zwei Jahren wird mehr Kohle verheizt als im Ausstiegsplan 2038 vorgesehen.
Doch daran, dass Lützerath dem Tagebau weichen soll, ändert auch der neue Ausstiegsplan nichts. Selbst wenn um das Dorf herumgebaggert würde, sei dieses nicht mehr standfest, heisst es in den strittigen Gutachten, die, wie der «Spiegel» berichtete, innert kürzester Zeit und mit von RWE erhobenen Daten erstellt worden sind. Den Kohleabbau ganz zu unterbrechen, so die Regierung, sei wegen des aktuellen Gasmangels nicht möglich, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden. Demgegenüber haben Forscher:innen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bereits 2021 in einer Studie berechnet, dass der Kohleabbau unter Lützerath mit dem Erreichen des 1,5-Grad-Ziels klar unvereinbar sei. Die beiden Sachzwänge stehen einander gegenüber. Ob Lützerath bleiben wird, ist eine Frage ihrer Gewichtung.
Die Bühne steht bereit
Es ist eiskalt, der Regen trommelt gegen das Dach, Castroya sitzt in einem kleinen Baumhaus. «Lützi» ist nach dem Hambacher Forst schon die zweite Besetzung in der Region, der sich Castroya anschloss. Jetzt gelte es auch hier, möglichst viel Aufmerksamkeit zu generieren. Mit Aktionen wie dem Auftritt bei «Wetten, dass..?» könne die Räumung vielleicht noch abgewandt werden. Aber wenn nicht? «Letztlich werden wir gegen die Gewalt der Polizei nicht bestehen können», sagt Castroya.
Dass die Verteidigung von Lützerath im Fall einer direkten Konfrontation nicht gelingen kann, davon gehen hier alle aus. Trotzdem wollen sie sich der Räumung bis zum Schluss entgegensetzen. «Sogar wenn die 1,5-Grad-Grenze noch erreicht werden sollte», sagt Alma, «die Folgen sind katastrophal.» Schon die jetzige Klimaerhitzung habe konkrete und verheerende Auswirkungen. Es geht ihr um viel mehr als um diesen Ort. Lützerath ist zwar der symbolische Schauplatz, an dem sich alles entscheidet – aber zugleich auch nur einer von vielen.
Derzeit zögern die Entscheidungsträger:innen noch. Erst diese Woche vermeldete der Kommandant der zuständigen Polizei Aachen, dass ein Einsatz wegen der nötigen Vorlaufzeit frühestens Anfang 2023 erfolgen könne. Die Gründe für die Zurückhaltung liegen auf der Hand: Sollte sie die Räumung wirklich anordnen, wird die Politik statt gegen die Klimakrise gegen eine utopische Perspektive vorgehen müssen. Die Bühne dafür wurde in den letzten Jahren bereitet. Martialisch anmutende Szenen dürften in den Medien zu sehen sein: bewaffnete Polizei, die Aktivist:innen aus Baumhäusern zerrt; RWE-Bagger, die bunt bemalte Hausmauern niederreissen. Die Wette gilt.
* Zum Schutz vor Repression nennen die Aktivist:innen in Lützerath einander bei ihren selbstgewählten «Waldnamen», die auch die WOZ in diesem Text verwendet hat.