Swetlana Gannuschkina: «Auf dass wir für das Gute einstehen»

Nr. 49 –

Am 10. Dezember wird Swetlana Gannuschkina für die NGO Memorial den Friedensnobelpreis entgegennehmen. Die renommierte russische Menschenrechtlerin über Feindseligkeit, Schuldgefühle und die eigene Verantwortung.

Swetlana Gannuschkina
Swetlana Gannuschkina: «In unserem Namen werden Verbrechen begangen.
Was sollen wir tun?»
Foto: Wolfgang Schmidt/Right Livelihood Award

WOZ: Frau Gannuschkina, in der Ukraine fragten sich viele, warum der diesjährige Friedensnobelpreis gleichzeitig an russische, belarusische und ukrainische Menschenrechtler:innen geht. Das spiele denjenigen in die Hände, die meinen, Russ:innen, Belarus:innen und Ukrainer:innen seien alle Brüder und Schwestern, so die Kritik.

Swetlana Gannuschkina: Ich weiss nicht, wie viele Jahre, wie viele Jahrzehnte vergehen müssen, bis man in der Ukraine den Ausdruck «unser Brudervolk» nicht mehr als Beleidigung empfinden wird. Ich stehe zu meiner Verantwortung als Staatsbürgerin für das, was im Namen unseres Volkes getan wird. Nun ist der Friedensnobelpreis aber keine Auszeichnung für Völker, auch nicht für Vertreter:innen von Völkern. Es ist ein Preis für Nichtregierungsorganisationen. Für Organisationen, die schon lange zusammenarbeiten und die diese Zusammenarbeit zu keiner Zeit eingestellt haben – was auch immer passiert ist.

Wie stehen Sie dazu, dass dieser Preis gleichzeitig an Menschen aus Russland, der Ukraine und Belarus vergeben wird?

Meiner Meinung nach verlaufen die Haupttrennlinien nicht entlang geografischer oder politischer Grenzen, sondern zwischen Menschen. Die Grenzen ziehen unterschiedliche Wertvorstellungen, Überzeugungen und vor allem unterschiedliches konkretes Handeln. Ich hoffe sehr, dass wir mit dem, was wir tun, auf der Seite des Guten und nicht auf der Seite des Bösen stehen. Und dass sich keine:r unserer ukrainischen Partner:innen von uns abgewandt hat, zeigt, dass wir für das Gute arbeiten.

Wurden kürzlich auch andere Preise an Russ:innen und Ukrainer:innen gemeinsam verliehen?

Einen Tag vor der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises habe ich erfahren, dass ich auch Preisträgerin des Anna-Politkowskaja-Preises bin. Er ist nach der russisch-amerikanischen Reporterin und Menschenrechtlerin, die 2006 in Moskau ermordet wurde, benannt; deswegen ist es ein trauriger Preis für mich. Er erinnert mich an einen Menschen, der mir sehr nahestand und der nun tot ist. Diesen Preis habe ich zusammen mit der wunderbaren Ukrainerin Tetiana Sokolowa erhalten.

Wer ist Tetiana Sokolowa?

Sie ist Hebamme und hat zwei Monate lang im belagerten Mariupol ausgeharrt. Dabei hat sie die meiste Zeit Frauen im Keller einer zerstörten Entbindungsklinik beigestanden, die in den Trümmern und unter dem Bombenhagel nicht wussten, wie und wo sie ihre Kinder zur Welt bringen konnten. 27 Kinder konnten dank Tetiana Sokolowa im Keller dieser Klinik das Licht der Welt erblicken. Ohne Licht, Strom, Heizung. Zusammen mit drei Ärztinnen ist sie lange dort geblieben.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Tetiana Sokolowa?

Ich kannte sie vorher nicht persönlich, aber wir haben miteinander telefoniert und uns gut unterhalten. Es war für mich schön zu sehen, dass ich für sie keine toxische Person bin. Und dafür bin ich ihr dankbar.

Viele Menschen in Russland unterstützen diesen Krieg. Warum?

Auf der einen Seite spielt natürlich die Propaganda eine grosse Rolle bei der Stimmungslage der Menschen. Auf der anderen Seite verlässt man nur ungern die Komfortzone. Man will sich diesen Dauerschmerz ersparen, das Gefühl der eigenen Verantwortung nicht aufkommen lassen. Nach Auftritten haben mich immer wieder Bekannte angesprochen, die sich an meinen Äusserungen über die Verantwortung der Menschen für das Handeln der Machthaber störten. Nach mehreren solchen Gesprächen wurde mir klar: Sie wollten nicht mich davon überzeugen, dass ich doch für das Geschehen gar nicht mitverantwortlich sei – sie wollten sich selbst einreden, dass sie nichts damit zu tun hätten. So wollten sie auch ihre eigene Verantwortung abschieben; denn die Vorstellung, etwas tun zu müssen, was den Machthabern nicht gefällt, löst bei ihnen Angstzustände aus.

In der Ukraine, in Georgien und in weiteren Ländern herrscht momentan eine feindselige Haltung gegenüber allen russischen Bürger:innen – auch gegenüber denen, die gegen den Krieg sind.

Ich weiss. Doch es steht mir nicht zu, die Menschen, die so fühlen, zu verurteilen. Ich wurde während des Zweiten Weltkriegs geboren, die Generation vor mir hatte alle Härten dieses Krieges ertragen, viele hatten gekämpft. Noch Jahre nach dem Krieg gab es in meinem Umfeld Menschen, die fest davon überzeugt waren, dass nur ein toter Deutscher ein guter Deutscher sei.

Was sollen wir tun? Es ist nun so, dass Verbrechen in unserem Namen begangen werden. Und es ist nicht an uns, zu beurteilen, welche Strafe wir dafür zu ertragen haben.

Also tragen die Russ:innen eine Kollektivschuld?

Ich bin keine Anhängerin von Kollektivschuld und Kollektivbestrafung. Auf so einer Annahme beruht die Ideologie des Terrorismus. Gleichzeitig glaube ich, dass jede und jeder, die oder der einen russischen Pass besitzt, eine gewisse Verantwortung für das trägt, was in ihrem und seinem Namen getan wird.

Ist es gut, dass viele junge Männer Russland verlassen?

Ich finde es falsch, wenn Länder junge Männer, die jederzeit mit einer Einberufung in den Krieg rechnen müssen, nicht aufnehmen. Jeder junge Mann, der Russland verlassen hat, wird nicht mehr schiessen. Damit ist sein Leben gerettet und das Leben von Menschen, die er womöglich im Kampf getötet hätte.

Russland hat die Ukraine angegriffen, trotzdem sind viele Ukrainer:innen nach Russland geflüchtet. Ist das nicht seltsam?

Man kann nicht sagen, dass sie freiwillig nach Russland gegangen sind. Stellen Sie sich vor: Sie sitzen irgendwo in einem Keller, haben keinen Kontakt zur Aussenwelt. Plötzlich kommt jemand und sagt Ihnen, dass draussen Busse stehen, die Sie, Ihre Kinder und Eltern in Sicherheit bringen. Es ist schwer vorstellbar, dass sich jemand weigert, sein Leben und das seines Kindes zu retten, und sagt, er werde auf den nächsten Bus warten. In so einer Situation hat man keine Wahl.

Gibt es nicht auch Ukrainer:innen, die sich entschieden haben, nach Russland zu gehen?

Ja, und diese Frage ist sehr schmerzhaft. Die meisten Ukrainer:innen, die bei uns in der Beratung waren, wollen in Russland bleiben. Ich möchte jetzt nicht auf die Gründe eingehen. Ich habe den Eindruck, dass wir dies analysieren sollten, wenn wir diese Fragen mit kühlerem Kopf angehen können. Und natürlich sollten auch unsere ukrainischen Kolleg:innen darüber nachdenken. Aber die Tatsache, dass sich doch ziemlich viele Menschen, die aus der Ukraine kommen, mit Russland identifizieren und ihre Zukunft in Russland sehen, hat mich überrascht. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie russisches Fernsehen schauen und Russland oft nur aus den Berichten kennen, die sie auf Kanal 1 gesehen haben. Diese Propaganda funktioniert.

Ihre Organisation «Ziviler Beistand» hat in Moskau bisher 6000 Menschen, davon 2000 Kinder, aus der Ukraine beraten. Wie viele ukrainische Geflüchtete befinden sich aktuell in Russland?

Nach Angaben der Uno leben in Europa aktuell 7,7 Millionen ukrainische Geflüchtete, in der Russischen Föderation befanden sich im Oktober 2,8 Millionen. 38 000 von ihnen leben in staatlichen Unterkünften. Das heisst: 98 Prozent der ukrainischen Geflüchteten haben in Russland bei Verwandten oder Freund:innen eine Bleibe gefunden.

Es gibt Medienberichte über Kinder, die ohne die Zustimmung ihrer Eltern aus der Ukraine nach Russland geschafft wurden.

Es ist schrecklich, dass Kinder entführt werden und kaum Verhandlungen geführt werden, wie sie wieder zurückkehren könnten. Das finde ich sehr schlimm. Kinder in eine fremde Umgebung zu stecken und sie ihrer kulturellen Bindungen zu berauben, ist im Allgemeinen eines der Merkmale von Genozid. Leider kann ich Ihnen keine Zahlen nennen, ich kenne sie nicht. In Russland wird das Thema tabuisiert.

Beim Überqueren der Grenze werden Ukrainer:innen «filtriert» – Russland lässt etwa nur Personen mit unpolitischen oder prorussischen Positionen einreisen. Was können Sie dazu sagen?

Für diese «Filtrationen» – die Befragungen und Kontrollen an der Grenze – gibt es keine Regeln oder Vorschriften, wie sie abzulaufen haben. Das finde ich unerträglich. Wir erhalten in unserem Büro regelmässig Klagen über schlechte Behandlung bei diesen sogenannten Filtrierungen. Zum einen gibt es zwar junge Männer, die problemlos über die Grenze nach Russland gekommen sind. Andere hingegen berichten, wie sie den Grenzbeamten den Zugang zu ihrem Mobiltelefon geben und sich ausziehen mussten. Ihre Körper hat man nach Tätowierungen und nach Spuren eines Waffeneinsatzes untersucht. Mir wurde auch mehrfach berichtet, dass Ukrainer an der Grenze wegen einer angeblichen Ordnungswidrigkeit zu fünf, zehn oder fünfzehn Tagen Haft verurteilt worden seien. Dabei kann doch jemand, der eben erst angekommen ist, noch gar keine Vorschrift verletzt haben. Was wirft man ihnen also vor? Man sagt, sie hätten sich unflätig ausgedrückt. Beweisen Sie da mal das Gegenteil.

Kommt es auch vor, dass Menschen nach der Filtration verschwinden?

Das ist das Schlimmste, was einem an der Grenze passieren kann – dass man einfach spurlos verschwindet. Wir wissen von Leuten, die verhaftet wurden und in einer Haftanstalt das letzte Mal gesehen wurden, dann verlor sich ihre Spur.

Wir haben mehrere solche Hilferufe von Angehörigen erhalten. In solchen Fällen haben wir jeweils die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Nikolajewna Moskalkowa eingeschaltet – leider immer erfolglos.

Betrifft die Filtration nur Männer?

Nein, natürlich nicht. Und für Frauen, insbesondere für junge Frauen, ist es äusserst belastend, wenn sie alleine fünf bewaffneten Männern gegenüberstehen. Uns sind zwar keine gewaltsamen Übergriffe bekannt, aber sich in einer derartigen Situation vulgäre Witze und andere Grobheiten anhören zu müssen, ist für die betroffenen Frauen sehr schlimm.

Wie geht es in Russland nun weiter?

Ich weiss, dass ein Aggressor nie einen Krieg gewinnt. Aber manchmal ist für ihn eine Niederlage sogar von Vorteil. Wissen Sie das nicht?

Friedensnobelpreisträgerin

Swetlana Gannuschkina (80) gehört zu den prominentesten Menschenrechtler:innen Russlands. Die Mathematikerin ist Vorsitzende und Mitbegründerin des Komitees «Ziviler Beistand», das sich seit 1990 für Geflüchtete einsetzt. Zudem leitet sie das russlandweite Beratungsnetzwerk «Migration und Recht».

Bei ihren Reisen ins europäische Ausland hat sich Gannuschkina immer wieder gegen die Ausschaffung russischer Staatsangehöriger nach Russland eingesetzt. Am 10. Dezember wird sie zusammen mit weiteren Vertreter:innen der internationalen Organisation Memorial in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennehmen.