Revolution im Iran: «Sie suchten einen Hals für ihre Schlinge»

Nr. 50 –

In wenigen Stunden verwandelte sich der Schmerz über die Hinrichtung des jungen iranischen Demonstranten Mohsen Schekari in kollektive Wut. Eine junge Frau aus Teheran gibt ihre Gedanken zu Protokoll.

eine Aktivistin protestiert in Barcelona gegen die Gewalt des Mullah-Regimes
Solidarität mit den Demonstrant:innen im Iran: Eine Aktivistin protestiert in Barcelona gegen die Gewalt des Mullah-Regimes. Foto: Ximena Borrazas, Getty

«Glaubst du immer noch an ‹Frau, Leben, Freiheit›? Sag schon, gestehe! Los! Gestehe!»

Diese Frage wurde N. während ihres Verhörs im Ghartschak-Gefängnis in Teheran gestellt. «Wer ist N.?», werden Sie sich vielleicht fragen. N. ist eine Frau aus dem Iran Anfang zwanzig, die möchte, dass Sie nichts weiter über sie wissen, als dass sie eine Frau im Iran Anfang zwanzig ist.

Ihre Geschichte beginnt damit, dass N. Ende Oktober vor der Universität von Teheran verhaftet wurde, wo sie gegen den blutigen Mord an Mahsa «Zhina» Amini protestierte. Eine Flut von Schlagstöcken prasselte auf ihren Körper ein, aggressive Kameras blitzten ihr ins Gesicht, Pfefferspray brannte in ihren Augen. Notiz am Rand: Es gibt einen Unterschied zwischen Tränengas und Pfefferspray. Ersteres ist die tägliche Dosis frische Luft für die Menschen im Iran, ob auf der Strasse oder in den Häusern, Tränengas dringt in jeden Winkel des Landes; Letzteres hingegen, Pfefferspray, bedeutet Verhaftung, es signalisiert, dass es vorbei ist, dass du jetzt mit ihnen gehen musst.

Erinnern als täglicher Kampf

«Auf dem Gesicht meines Befragers im Verhör, meines Folterers, meines Unterdrückers zerfloss ein böses Lächeln», erinnert sich N. Etwa vierzig Tage verbrachte sie hinter den hohen und dicken Mauern des Ghartschak-Gefängnisses. Der Akt des Erinnerns war ihr täglicher Kampf. Hinter den Mauern blühte das Vergessen. Hinter den Mauern erinnerte sie sich. Woran? An den Geruch von Lavendelseife, an das Gefühl von frischer Baumwollunterwäsche, an das Flackern der Strassenlaternen am Nachthimmel, an den Geschmack einer Bahman-Zigarette, an Tampons in der richtigen Grösse und an ihre Katze.

Das Lächeln des Polizisten schmolz durch das Feuer von «Frau, Leben Freiheit».

Was geschah hinter den Mauern des Gefängnisses von Ghartschak? «Frau, Leben Freiheit» – auf Farsi: «San, Sendegi, Asadi» – erschütterte die Mauern, versetzte die Beamten in Angst, Schrecken und Entsetzen. Das Lächeln des Polizisten schmolz durch das Feuer von «San, Sendegi, Asadi». Als sie die Frage hörte, ob sie noch daran glaube, verspürte auch N. das Feuer, aber es beruhigte sie. «In dem Moment habe ich die Kraft von ‹Frau, Leben, Freiheit› gespürt.» Pause. «Ich spürte es bis in meine Knochen.» Pause. «Ich spürte, dass es funktioniert. Dass es so verdammt gut funktioniert, dass ich mich dazu bekennen musste», sagt N. voller Stolz. Sagt N. mit ihrer Katze auf den Schenkeln. «Was hast du geantwortet?», frage ich. Sie weist mich energisch darauf hin, dass ich nicht weiter nachhaken soll, und sagt, dass das für die erste Runde des Interviews reiche. Dann geht sie los, um sich dem stillen Protest in der Enghelabstrasse anzuschliessen. Es ist Montag, der 5. Dezember.

In der Nacht schreibt sie mir: «Wir marschierten alle schweigend auf den Bürgersteigen die Enghelabstrasse, die Strasse der Revolution, entlang zum Asadiplatz, dem Platz der Freiheit. Es war die Menge des Schweigens. Ein Zivilpolizist war da, und als ich an ihm vorbeiging, unverhüllt, mit meinem Gesicht unter der Maske, flüsterte er mir zu: ‹Sag es, warum bist du still? Sag dein dummes ,Frau, Leben, Freiheit’›. Ich sah dasselbe schmelzende Lächeln auf seinem Gesicht, aber dieses Mal konnte mein Peiniger meines nicht sehen. Ich lächelte hinter der Maske. Wir marschierten alle schweigend – und unsere Stille rief ‹Frau, Leben, Freiheit›.» Lange Pause. «Es funktioniert, Niloofar, verdammt noch mal, es funktioniert.»

Wegen ein paar Kratzern

Ich will sie mehr zum Streik und zum stillen Protest fragen, aber der Donnerstagmorgen ändert alles: «Heute Morgen fand die erste Hinrichtung eines verhafteten Demonstranten des Zhina-Aufstands statt, sein Name war Mohsen Schekari. Er war 23 Jahre alt. Er mochte Videospiele und kochte gerne guten Kaffee», schreiben Journalist:innen auf Twitter.

«Wir schliefen am Donnerstagmorgen, als Mohsens Hals in ihrer Schlinge steckte; wir schliefen, als Mohsen im Sterben lag, als er starb, irgendwo in der Luft, und seine Beine ungeduldig in den Himmel schwangen …» N.s Stimme zittert, erfüllt von unendlichem Entsetzen, Verzweiflung, Schmerz und Wut. Sie wiederholt einen Satz, der die Wunden in unseren Körpern wieder aufleben lässt: «Sie suchten einen Hals für ihre Schlinge.» Sie sagt, was Navid Afkari gesagt hatte. Es ist ihre, Navids und unser aller Stimme.

Am 12. September 2020 legten sie ihre Schlinge um den Hals von Navid Afkari. Nach dem blutigen November 2018 war Navid, ein Wrestler und Arbeiter, angeklagt worden, schuldig des Mordes an einem Wachmann während der Proteste gewesen zu sein. «Niloofar! Wir kannten vor seiner Hinrichtung nicht einmal Mohsens Namen … Wir kannten Navid, wir haben so viele Tweets geschrieben, um seine Hinrichtung zu verhindern. Wie kommt es, dass ihre Schlinge Mohsen, einen namenlosen Gefangenen, auswählte … Warum kannten wir Mohsens Namen nicht? Warum haben sie denjenigen hingerichtet, dessen Namen keinen Hashtag hatte? Was haben wir falsch gemacht … warum haben wir diesen übersehen … warum?» N. bricht in Tränen aus, sie kann nicht weitersprechen, nicht weiteratmen. Sie bricht das Gespräch ab. In weniger als zwei Minuten teilt N. einen Instagram-Post mit mir und schreibt in die Chatbox: «LIES DAS! JETZT!»

Den Beitrag hat ein linker Übersetzer und Aktivist geschrieben; es sind Nachrichten aus dem Radschai-Schahr-Gefängnis in Karadsch, Teheran, dem letzten Gebäude, das Mohsen gesehen hat: «Am Sonntag brachten sie Mohsen Schekari nach Radschai Schahr. Gestern hat [Mohsens Familie] ihm einige Sachen und Kleidung geschickt, heute hat er keine Zeit, sie zu tragen, weil er tot ist.» Angefügt ist ein verbliebenes Zitat von Mohsen: «Bruder! Meine Strafe dient [nur] dazu, mir Angst zu machen. Glaub mir, sie werden mich nicht wegen drei Kratzern hinrichten. Seine Wunden mussten nicht einmal genäht werden!»

Und so wurde Mohsen am 8. Dezember hingerichtet. Beschuldigt, am 25. September an der Demonstration teilgenommen, die Strasse abgesperrt und einen Basidschi, einen freiwilligen Volksmilizionär, erstochen zu haben. «Seine Wunden mussten nicht einmal genäht werden!» Und so wurde Mohsen wenige Augenblicke vor Sonnenaufgang hingerichtet, wie es im Iran üblich ist, damit der Hingerichtete den Sonnenaufgang, den neuen Tag, nicht mehr sehen kann.

Leben wurden zu Hashtags

Die Gegenwart trifft auf die nicht endende Vergangenheit. Wieder einmal. Zwei Jahre nach seiner Hinrichtung spricht Navid noch immer zu uns, laut und deutlich. Navid war erst 27 Jahre alt, als er hingerichtet wurde, Mohsen erst 23. Navid war ein Sportler und ein Arbeiter, Mohsen ein Barista. Leben wurden zu Hashtags. Den Demonstrant:innen sollen die Hinrichtungen sagen, dass es eine Grenze gibt, dass man sich enthüllen kann, sagen kann, was man will, tun kann, was man will, aber dass es eine schmale Grenze gibt. Diese Grenze ist die plötzliche Hinrichtung. Die Grenze ist ihre hungrige Schlinge, und wenn wir nicht still sind, wird die Schlinge nach uns allen suchen, sie dürstet nach weiteren Hälsen.

«Ich bin in Sattarchan, es ist so ein Gedränge, sie sind auch hier», schreibt mir N. nachts. «Was rufen die Leute?», frage ich. «Sie haben uns Mohsen genommen, sie haben seinen Leichnam zurückgebracht.» Einige Minuten später fügt sie hinzu: «Wir schreien Mohsens Namen, ich schäme mich zutiefst, dass ich seinen Namen nicht schon vor seiner Hinrichtung gerufen habe; ich fühle mich schuldig, dass ich nicht selbst hingerichtet wurde … Ich werde seinen Namen jetzt und für immer rufen.» Es dauerte nur wenige Stunden – seitdem sie die Nachricht erhalten hatte –, um zu trauern, zu weinen, zu schreien, um aus dem Schmerz heraus die Fäuste zu ballen und wieder auf die Strasse zu gehen. Das ist die Geschwindigkeit einer Revolution. Nichts kann sie aufhalten, der Schmerz verwandelt sich innerhalb weniger Stunden in kollektive Wut. Die Schreckensnachrichten werden zu einem weiteren starken Grund, diejenigen in Schrecken zu versetzen, die nach Hälsen für ihre Schlingen suchen. Das ist die Grenzenlosigkeit einer Revolution. Keine Grenze kann ihr mehr Grenzen setzen.

Am Montagmorgen, dem 12. Dezember, wachen wir auf und lesen, dass die zweite Hinrichtung, dieses Mal in der Öffentlichkeit, vollstreckt wurde. Dieses Mal ist es das Genick von Madschidresa Rahnavard. Er war erst 23 Jahre alt. Du hattest recht, Navid, sie haben einen Hals für ihre Schlinge gesucht.

Aus dem Englischen von Merièm Strupler.