Notizen einer Revolution (4): Keine Rettung, kein Mitleid

Nr. 4 –

Niloofar Rasooli über die ausgetrockneten Böden Belutschistans, das Lächeln der Revolutionsgardisten und eine unerzählte Begegnung aus einer anderen Zeit.

Illustration der Artikel-Serie: drei in die Höhe gestreckte Frauen-Fäuste

Immer freitags warten alle auf den Gesang Zahedans. Zahedan ist die Hauptstadt der Provinz Sistan und Belutschistan, ganz im Südosten des Iran. Sie beinhaltet den iranischen Teil Belutschistans, der heute das Land der ausgetrockneten Brunnen, Flüsse und Seen ist. Trocken, aber getränkt vom Blut seiner Menschen. Die Regierung in Teheran gibt Belutschistan nichts ausser «Leugnung, Kugeln und Hinrichtungen», wie in Zahedan freitags gesungen wird.

Alles begann mit der Nachricht von einer Vergewaltigung in Tschahbahar, ganz im Süden Belutschistans. Das Mädchen war fünfzehn Jahre alt, sie wurde in Polizeigewahrsam vergewaltigt, als sie wegen eines Mordes in der Nachbarschaft verhört wurde. Nachdem ihre Geschichte an die Öffentlichkeit gekommen war, entlud sich auf den Strassen Zahedans die lange angestaute Wut der Belutsch:innen. Sie erinnerte an Zhina Mahsa Amini, und Zhinas Geschichte erinnerte an ihre. Nach dem Freitagsgebet in der Makkimoschee versammelten sich am 30. September die Menschen, um ihre Wut hinauszuschreien. Die Antwort des Regimes bestand darin, das Internet abzustellen und das Feuer zu eröffnen. Am «Blutigen Freitag» wurden Menschenleben zu Zahlen, und sie wurden zu Hashtags. Mindestens 96 erfuhren «Leugnung, Kugeln und Hinrichtungen».

Die Stimme Belutschistans ist laut und deutlich. Ich habe sie schon gehört, als ich im Jahr 2020 als Journalistin hinfuhr. Ich traf Resvan, ein zwölfjähriges Mädchen, das in Chasch in einem Zelt wohnte.

Meine Reise war von einer staatlichen Organisation finanziert worden, die die ausgetrocknete Region mit Trinkwasser versorgt. Wie so viele meiner Kolleg:innen, die aus Teheran in die «armen» Regionen geschickt werden, sollte ich über Arme berichten, die dem Staat für seine spärliche Hilfe dankbar sind. Mein Redaktor sagte, ich solle einfach mal hinfahren und mich umsehen. Also ging ich.

Als ich in Chasch ankam, traf ich auf ein durstiges Dorf unter brennender Sonne. Da standen Betongebäude ohne Fenster, keines davon gebaut oder genutzt von den Dorfbewohner:innen. Ich sah offenen Benzinschmuggel, die einzige Einnahmequelle der Menschen, die vor nicht allzu langer Zeit noch Bäuerinnen und Fischer gewesen waren. Ich sah viele Zelte, aber keine Menschen. Neben mir ging ein Fotograf und rauchte. Als er mit seiner Zigarette fertig war und verschwand, kam ein Mädchen aus einem der Zelte und fragte bestimmt, ob der Mann von der Revolutionsgarde jetzt weg sei.

Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie den Fotografen für einen Sepahi gehalten hatte, einen Revolutionsgardisten. Das Muster seiner Hose ähnelte jenem der Sepah-Uniform. Ich erklärte, dass wir bloss eine Journalistin und ein Fotograf seien. Da rief sie etwas auf Belutschisch, und plötzlich kamen die Menschen aus ihren Zelten hervor. Resvan sagte mir, dass sie wisse, dass ich niemals über sie schreiben würde, und dass sich auch dann nichts ändern würde, falls ich es doch täte. Sie hatte recht. Ich schämte mich. «Wie auch immer», sagte sie, «die Menschen wollen reden.»

Resvan zeigte mir, wie man ein Land austrocknen und seine Ressourcen versickern lassen kann, wie man Menschen in die Armut zwingt, ihre Sprache auslöscht, ihre Träume tötet – und dann auftaucht, um in Armeeuniform vor den Kameras angereister Journalist:innen lächelnd Wasserflaschen, billige Zahnpasta und Kartoffelsäcke zu verteilen. Sie zeigte mir auf, wie Teheran den Belutsch:innen ins Gesicht spuckt. Und wie die Sepah Belutschistan die Luft abschnürt.

Ich ging zurück in die Hauptstadt, und wie es Resvan vorhergesagt hatte, schaffte ich es nie, ihre Geschichte zu veröffentlichen. Aber ihre Stimme blieb bei mir, reiste mit mir bis in die Schweiz. Ich höre sie, wenn ich Zahedans Gesang höre. Den Gesang jener, die mit nichts leben ausser der Überzeugung, sich vom eigenen Unterdrücker weder retten noch bemitleiden lassen zu wollen. Sie brauchen mich nicht, um eine Stimme zu haben. Kein Leugnen, keine Kugeln, kein Hinrichten kann sie aufhalten.

Niloofar Rasooli (30) lebt seit 2021 in Zürich und doktoriert an der ETH in Architekturgeschichte und -theorie. Sie ist in Sendschan im Nordwesten des Iran aufgewachsen und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin in Teheran.

Aus dem Englischen von Raphael Albisser.