Notizen einer Revolution (6): Keine Vaterfiguren, keine Ideologie
Niloofar Rasooli über Nachrichten aus dem Gefängnis, unmögliche Missionen und die Revolte der iranischen Körper.
«Oh, könnte Azadî doch ein Lied singen, winzig, winziger als die Kehle eines Vogels.» «Azadî» ist das kurdische und farsische Wort für Freiheit, und so lautete 1976 der Wunsch von Ahmad Schamlou (1925–2000), dem iranischen Gefängnispoeten. Nun, da Jahre später eine feministische Revolution das Land erfasst, antwortet ihm eine anonyme Poetin in einem Lied: «Wenn der nächste Tag kommt, werde ich sterbend in die Seele der grünen Gräser gleiten, und die ewige Sonne Azadîs wird unseren Himmel erhellen.»
Sterbend gleiten wir in die Seele der grünen Gräser, damit Azadî ein Lied singt. Winzig, winziger als die Kehle eines Vogels.
Azadî, dieser Konjunktiv. Azadî, diese endlose Unmöglichkeitsform. Azadî, dieser zertrümmerte Wunsch nach Frühling, auf den der Winter folgt. «Azadî lässt sich säen, und wir haben den Samen», hat in Teheran jemand auf eine Mauer gesprayt.
Azadî, dieses süsse Wort, das Münder verbittert. «Für die nächsten zehn Tage werde ich das Wasser bitter machen, bevor ich es trinke, als Symbol für diese bittere Zeit des Gifts.» Das hat Farhad Meisami gesagt, ein politischer Häftling im Radschai-Schahr-Gefängnis in Karadsch. Er befindet sich im Hungerstreik. Die Fotos aus dem Gefängnis sind schrecklich.
Ja, Azadî ist schrecklich. Azadî ist wie ein Körper im Hungerstreik; Azadî ist die Haut, die einfällt zwischen Muskeln und Knochen, und Azadî ist eine Vene, die vom Körper absteht. Vier Monate Hungerstreik haben Meisamis Körper zerkaut. Er ist bis auf 52 Kilogramm abgemagert. Seit er 2018 verhaftet wurde, befindet er sich in Haft; sein Verbrechen bestand darin, das Recht der Frauen auf ihren eigenen Körper zu fordern. Beweis seiner Schuld war ein Paket voller Ansteckbuttons, gefunden in seiner Bibliothek. «Ich bin gegen den Kopftuchzwang», war auf ihnen zu lesen.
Jetzt spricht sein Körper genauso wie die Buttons. Auf den Fotos steht er ohne Oberteil da, seine fleischlosen Rippen sind entblösst. Er trägt drei Bücher in der Hand, und deren Titel überbringen eine Botschaft: «Die Macht der Machtlosen» gegen «Tyrannei» ist der «schmale Korridor» für Azadî (es sind Bücher von Václav Havel, Daron Acemoğlu und James A. Robinson sowie Timothy Snyder).
Farhad Meisami stellt drei Forderungen: den Stopp der Hinrichtung von Protestierenden, die Freilassung von sechs politischen Gefangenen und ein Ende des Kopftuchzwangs. «Ich werde meine dreifache Forderung weiterhin aufrechterhalten, diese ‹unmögliche Mission›. Möge sie dereinst möglich werden mit einer gemeinsamen Anstrengung.» So steht es in einem Brief, den Meisami im Gefängnis geschrieben hat.
Die Revolution im Iran ist eine Revolte der Körper. Sie hat keine Vaterfiguren, sie folgt keiner Ideologie. Ihre Botschaft wird getragen von den getöteten, eingesperrten, gefolterten und ausgehungerten Körpern. Für manche mag es verlockend sein, jetzt ins Blut der Menschen zu treten und die männliche Figur zu werden, die eine imaginierte Nation rettet. Aber das Blut ist rutschig, sie werden rasch fallen. Die Hoffnung auf Azadî kommt nirgendwo sonst her als von den leidenden Körpern. Jener von Farhad Meisami beweist dies einmal mehr.
«Ihr, die einmal mehr ganz bewusst eure Körper zum Schutz kollektiver Forderungen hinstellt – wach und wachsam», hat Niloofar Hamedi geschrieben. Die Journalistin gehört zu jenen sechs Inhaftierten, für die sich Meisami in den Hungerstreik begeben hat. Hamedi bittet ihn darum, seinen Streik zu beenden; sie bittet ihn darum, nicht zu sterben, sondern zu überleben und «Azadî aller politischen Gefangenen zusammen zu feiern».
Hamedi und Meisami schreiben aus dem Gefängnis, vom Ort der Hoffnung und Azadîs. Sie schreiben für diese bittere Zeit des Gifts. «Oh, könnte Azadî doch ein Lied singen, winzig, winziger als die Kehle eines Vogels, nirgends würde eine Mauer unzerbröckelt bleiben.»
Niloofar Rasooli (30) lebt seit 2021 in Zürich und doktoriert an der ETH in Architekturgeschichte und -theorie. Sie ist in Zandschan im Nordwesten des Iran aufgewachsen und arbeitete als Journalistin in Teheran.
Aus dem Englischen von Raphael Albisser.