Notizen einer Revolution (8): Tränengas ist nicht süss

Nr. 8 –

Niloofar Rasooli über die Scham, zu atmen, und die Sache mit der Hoffnung.

Illustration der Artikel-Serie: drei in die Höhe gestreckte Frauen-Fäuste


«Streik! Verbreitet diese Botschaft, druckt sie, verteilt sie, schreit sie aus voller Kehle.» Mit diesen Worten des Widerstands riefen Flugblätter letzte Woche dazu auf, der beiden Demonstranten zu gedenken, die vor vierzig Tagen hingerichtet worden sind; deren Namen nicht zu vergessen: Seyed Mohammad Hosseini und Mohammad Mehdi Karami.

Ich habe hier über ihre Hinrichtung geschrieben. Über die verdammten Sonnenaufgänge; die hungrigen Schlingen, die Genicke brechen, um die schreienden Kehlen und unsere Stimme zum Verstummen zu bringen. War das genug? Nein. Es ist nie genug. Keine noch so grosse Menge schwarzer Tinte kann genug gegen die Hinrichtungen anschreien; gegen die ausgelöschten Leben; gegen den Horror.

«Tausende stehen hinter dem einen, der getötet wird», hallte es am 17. Februar durch die Strassen. Es war ein Tag für diejenigen, die ermordet, zum Schweigen gebracht, ausgelöscht und aufgehalten worden sind. Und es war ein Tag, an dem wir verkündeten: Die Exekutionen werden uns nicht zum Verstummen bringen, sie werden uns nicht auslöschen können. Das Blut so vieler hat sich über die Erde ergossen; es ist zu spät, um uns noch aufzuhalten.


Am Abend des 17. Februar wähle ich die Nummer einer lieben Freundin. Sie geht nicht ran. Ich schicke ihr eine Nachricht auf dem Messengerdienst Telegram, aber das zweite graue Häkchen erscheint nicht. Sie ist nicht da.

Sie wird draussen sein, auf der Strasse. Ich stelle mir vor, wie sie ein altes Nokia 1100 mitnimmt, um im Fall einer Verhaftung weniger Spuren preiszugeben; wie sie ein dickes Buch in ihren Rucksack stopft, um ihr Rückenmark zu schützen, sollte sie von hinten angeschossen werden; wie sie für sich und andere zwei Schachteln Zigaretten dabei hat, weil der Rauch gegen Tränengas hilft, wenn man ihn in die Augen bläst. Ja, sie wird draussen sein.

Ich halte den Atem an, warte einige Stunden.

Dann geht sie online. Ich atme aus.

Sie ist nicht tot; noch ist sie nicht tot.

Ich hole tief Luft. Ich schäme mich zu atmen, wenn so viele es selbst nicht mehr können.

«Was ist passiert?», frage ich. «Diese Schweine, sie haben eine Freundin mit Schlagstöcken verprügelt. Wir sind weggerannt, aber ihr Rücken tat so weh, dass wir sie an einen sicheren Ort bringen mussten. Diese Mistkerle. Ich mache einen Tee. Ich komme gleich wieder.»

Sie dreschen immer noch mit ihren Schlagstöcken auf uns ein, um zu beweisen, dass sie Mahsa «Zhina» Amini nicht zu Tode geprügelt haben.

Meine Freundin legt feuchte, schwarze Teeblätter in ein Taschentuch und drückt sie leicht gegen ihre Augen. «Weisst du, was Tränengas kostet?», fragt sie. Ich habe keine Ahnung. «Sie haben so viel davon; sie überschütten uns mit Tränengas, wie Braut und Bräutigam mit Noghl-o-nabat*», sagt sie kichernd. «Aber Tränengas ist nicht süss, und es ist nicht meine Hochzeit.» Und sie fügt an: «Es waren so viele, frisch ausgeruht und voller Energie für eine neue Runde Prügeln und Töten. Es ärgert mich, dass sie so ausgeruht waren.»


«Wo ist die Revolution jetzt?», diese Frage wird mir in letzter Zeit oft gestellt. So als ob die Revolution verloren sei oder jemand sie mitgenommen und versteckt habe.

«Habt ihr noch Hoffnung?», ist auch so eine Frage. Als ob wir zu viel Hoffnung für etwas hätten, das ohnehin hoffnungslos ist; als ob wir zu blind wären, um eine hoffnungslose Situation zu sehen, und daran erinnert werden müssten.

Eine Antwort darauf ist der Slogan, der letzte Woche auf den Strassen vieler iranischer Städte laut und deutlich gerufen wurde: «Wir schwören auf das Blut unserer Freunde, wir halten bis zum Ende stand.»

Meine Freundin im Iran sagt: «Ich habe keine Ahnung von Hoffnung. Wir sind damit beschäftigt, etwas zu tun, nicht damit, auf etwas zu hoffen. Wir haben gar keine andere Wahl als eine Revolution.»

Ja, es gibt gar keine andere Wahl als eine Revolution.

* Noghl-o-nabat sind kleine, weisse Bonbons, die am Hochzeitstag wie Reis oder Konfetti dem Brautpaar zugeworfen werden.

Niloofar Rasooli (30) lebt seit 2021 in Zürich und doktoriert an der ETH in Architekturgeschichte und -theorie. Sie ist in Zandschan im Nordwesten des Iran aufgewachsen und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin in Teheran.

Aus dem Englischen von Merièm Strupler.

Mit diesem Beitrag enden die «Notizen einer Revolution».