Erwachet!: Ein Weihnachtslied

Nr. 51 –

Michelle Steinbeck hört Kae Tempest

Am Ende dieses Jahres bin ich erschöpft. «Because the days are not days but strange symptoms», rappte die Londoner Dichter:in und Musiker:in Kae Tempest schon 2019. Im darauffolgenden Jahr, so lese ich bei der Autorin Elif Shafak, tauchten während der Coronapandemie in den Parks der englischen Hauptstadt Schilder auf mit der Frage: «Wenn all das vorbei ist, welche Veränderungen willst du in der Welt sehen?» Darunter war Platz für Antworten. Jemand schrieb: «Wenn all das vorbei ist, will ich gehört werden.»

Heute dreht auf dem Hydepark ein Riesenrad. Hinter der grossflächigen Absperrung sind ausserdem zu erahnen: Blinken und Sausen von Achterbahnen, Burger-und-Frittiertes-Stände, Bierhallen, Schlager und Kreischen. Leute stehen Schlange vor dem Eingang des «Winter Wonderland», halten ihre QR-Tickets bereit, steigen über Bettelnde, die an der Wand auf dem vereisten Boden sitzen.

«War das ein historischer Moment, an dem wir gerade vorbeigestolpert sind?», rappt Tempest – übersetzt – weiter. «Noch eine Katastrophe / Katharsis / noch eine halbverworfene Illusion / noch eine Maske verrutscht».

Kein Lied, kein Text trifft meine Endjahresstimmung so gut wie Tempests «People’s Faces». Er erspart mir meinen persönlichen Jahresrückblick und fasst meine Verfassung so treffend zusammen, dass ich heulen könnte: «Wir arbeiten jeden verfluchten Tag, der uns gegeben wurde / Fühlen uns, als wäre die Person, die wir eigentlich sein sollten / gar nicht wirklich wir / als würden wir unter der Last einknicken / jeden Moment / der Struggle macht uns fertig / Und dann lächeln wir all unsere Freund:innen an.»

Aber das ist nur eine Dimension dieses Songs, der ein Langgedicht unserer Zeit ist. «Könnten wir es nicht / anders machen?» Persönlicher Schmerz und Weltschmerz fliessen ineinander; Ohnmacht schmilzt in Empathie: «Ich kann deinen Schmerz spüren.» Eigentlich ist es eine Predigt, voll Pathos, Trauer, Zweifel – und Hoffnung: «Es ist schwer zu akzeptieren, dass wir alle ein und dasselbe Fleisch sind / Die Spaltung zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten breitet sich aus / Aber wir sind es trotzdem.»

Was Tempest hier bringt, ist nicht nur eine perfekte antikapitalistische Weihnachtspredigt: «Es ist nicht genug / sich vorzustellen, dass wir glücklich sein werden, wenn wir genug Zeug haben / All dieses Zeug blockiert uns.» Es ist eine Hymne für all die grossen, oft hohlen Begriffe, die hier wundersam gefüllt werden: Mitgefühl, Menschlichkeit, Veränderung, Hoffnung: «Ich kann spüren, wie sich Dinge ändern / Aber es ist so schwer.»

Tempests Schluss ist so banal wie wirkmächtig: «Ich habe jetzt keine Antworten / Aber es gibt immer noch Dinge zu sagen.» Zum Beispiel: «Mehr Empathie / Weniger Gier / Mehr Respekt.»

Oder auch: Wer sich und seiner Psyche auf die Schnelle etwas Gutes tun will – und zufällig einer Chilbi über den Weg läuft … sollte alles stehen und liegen lassen und einsteigen. Eine Achterbahnfahrt beschert erwiesenermassen einen schönen Endorphinrausch und grosszügige Ausschüttung anderer Glückshormone. Weniger Loopingaffinen sei das neuste Buch von Elif Shafak empfohlen: «How to Stay Sane in an Age of Division» («Hört einander zu!»). Für Funken von Hoffnung in Gesichtern. Kae Tempest: «Es ist so viel Frieden zu finden in den Gesichtern der Menschen.»

Michelle Steinbeck ist Autorin.