Film: Die perfekte Welle

Nr. 51 –

Sonnenuntergänge in der Südsee? Ja, und doch ist das Setting in Albert Serras Film «Pacifiction» eher apokalyptisch. Selbst die scheinbar Mächtigen verlieren hier den Überblick über die politischen Kräfte.

Filmstill aus «Pacifiction»: Protagonist De Roller (Benoît Magime) im Gespräch mit einer weiteren Person auf einer Veranda
Kafkaeske Figurenkonstellationen und fassbindersche Homoerotik: Protagonist De Roller (Benoît Magimel, links) pendelt zwischen Melancholie und Paranoia. Still: Sister Distribution

Wofür hatten wir die Französische Revolution, wenn wir jetzt nicht wenigstens ein bisschen Spass haben können, fragt der blonde, etwas zu selbstsichere Hochkommissar der Französischen Republik namens De Roller (Benoît Magimel) einmal während eines dieser endlosen betrunkenen Bargespräche, die «Pacifiction» gefühlt zur Hälfte ausmachen. Woraus die andere Hälfte des immerhin fast dreistündigen Films besteht, das wird – und das gilt für De Roller, zu dessen melancholischer Selbstsicherheit sich bald eine handfeste Paranoia gesellt, wie auch für uns – nie so ganz klar. Doch trotz der berüchtigten Sperrigkeit des Regisseurs ist es höchste Zeit, dass mit «Pacifiction» endlich ein Film von Albert Serra in der Schweiz ins Kino kommt.

Im Zentrum stehen die Bilder und das, was sie ausfüllt – nicht, was in ihnen geschieht.

Es ist bemerkenswerterweise der erste Film des Katalanen, der nach besagter Revolution spielt – und irgendwie wird man trotz aller Bewunderung den Eindruck nicht ganz los, dass Serra nicht nur den unmittelbaren, sondern auch den langfristigen Auswirkungen dieses Ereignisses zumindest ambivalent gegenübersteht.

Auch in seinen früheren Werken sind die Protagonisten allesamt Männer, die den kommenden Veränderungen mit tiefem Unbehagen entgegenblicken. So trifft der Rationalist Casanova in «Història de la meva mort» (2013) auf das Chaos der Romantik in der Form Draculas; so nimmt die innere und äussere Verwesung des Sonnenkönigs in «La muerte de Luis XIV» (2016) den Tod des alten Systems vorweg; und so gehen die von Versailles vertriebenen Adligen in «Liberté» (2019), Serras bizarrstem Film, während einer langen Nacht bis zum Exzess ihren libertinen Obsessionen nach. Zukunft und Progression bedeuten bei Serra immer auch Unterdrückung, Verwesung und dekadente Gegenreaktion. Zeitgemässer geht eigentlich kaum.

Wenn die Welt abhandenkommt

Was passiert also – ausser dass die Dinge zumindest minimal vertrauter wirken –, wenn Serra seine Protagonist:innen in die Gegenwart schickt? Dazu sollte man gleich hervorheben, dass «Pacifiction» in Französisch-Polynesien spielt, und zwar auf Tahiti, einer der letzten Weltgegenden also, wo der Kolonialismus – die ganzen staatsrechtlichen Nuancierungen einmal ausgeklammert – immer noch mehr oder weniger offiziell Bestand hat. Kommt hinzu, dass die Franzosen ihr «Überseegebiet» von den 1960er bis in die 1990er Jahre als fotogene Kulisse für Atomwaffentests benutzt haben, deren genaue ökologische und gesundheitliche Nachwirkungen heute noch verschwiegen werden.

Allen Postkartenmotiven zum Trotz ist das Setting von «Pacifiction» also durch und durch apokalyptisch – was für einmal nicht am steigenden Meeresspiegel liegt, sondern an einem Welt- und Menschenbild, das direkt von Joseph Conrad oder Thomas Pynchon hergeschifft wurde. Selbst die manipulativsten und korruptesten Regierungsvertreter verlieren hier die Übersicht und den Lebenswillen, wenn ihnen bewusst wird, dass ihre produktiv geglaubte Verkommenheit auf das grosse Ganze überhaupt keinen Einfluss hat und auch nie gehabt hatte.

Im Zentrum von Serras Kino aber stehen die Bilder und das, was sie ausfüllt – und nicht, was in ihnen geschieht. Es geht um Blicke oder um Blick- und Affektnetzwerke auf allen soziopolitischen Ebenen. Und weil es seit jeher eine Illusion ist, dass das Publikum unbeteiligt sein könnte, treffen diese Blicke manchmal auch direkt die Kamera. Serra dreht immer mit drei Kameras gleichzeitig, was man eher aus dem Actionkino mit aufwendigen Stunts kennt. Bei ihm aber dient es gemäss eigener Aussage dazu, Dinge zu sehen, die einem fokussierten Auge verborgen blieben – und dazu, die Schauspieler:innen zu verunsichern, weil ihnen das die Möglichkeit nimmt, ihr Spiel auf einen bestimmten Punkt im Raum auszurichten. Sie, also die spielenden Körper, denen in einer Taumelbewegung gerade die Welt abhandenkommt, sind das zweite Element, um das Serras Filme kreisen.

Die genussvollste Langeweile

Praktisch keine Rolle spielt der Plot, der sich in der Regel auf eine grob umrissene Entwicklung beschränkt: das Sterben von Louis XIV, die Steigerung von Perversionen im Übergang von der Nacht zur Morgenröte oder jetzt, in «Pacifiction», das wellenartige Aufkommen und Abklingen der Paranoia über die Frage, ob die U-Boote, die im Pazifischen Ozean gesichtet werden, etwas mit den Gerüchten über die Wiederaufnahme von französischen Atombombentests zu tun haben.

Wenn all dies ein wenig langweilig klingt, ist das nicht falsch, aber es ist ästhetisch gesehen die wohl stimmungs- und genussvollste Langeweile, die im Kino zurzeit möglich ist – komplett mit südpazifischen Sonnenuntergängen, exotisierenden Tänzen, fassbinderscher Homoerotik und einer kafkaesken Figurenkonstellation.

In einer der überwältigendsten Szenen in diesem überwältigenden Film fährt De Roller auf den Ozean hinaus, wo er mit Surfern und anderen Beobachtern auf eine riesige Welle wartet, von der man das Gefühl hat, dass sie alles unter sich begraben wird. Sie überschlägt sich dann leicht seitwärts der Gruppe, als ob sich ihre umwälzende Gewalt hätte vorhersehen lassen. Dann wird die Oberfläche wieder ruhig; etwas Spass gab es durchaus.

«Pacifiction». Regie und Drehbuch: Albert Serra. Frankreich/Spanien 2022. Ab 29. Dezember 2022 im Kino.