Gauguin auf Tahiti: Ist der alte Franzose noch zu retten?
Das Gegenteil von Cancel Culture: Die postkoloniale und feministische Kritik an Paul Gauguin korrigiert kunsthistorische Verklärungen, schafft neue Einsichten in alte Kunst und macht sein Werk für die Zukunft haltbar.
Was sehen wir? Eine Frau mit langen schwarzen Haaren in einem hochgeschlossenen, langärmligen blauen Kleid. Am Hals und an den Handgelenken lugt eine kunstvoll gezackte weisse Bluse hervor. Die Frau ist dunkler Hautfarbe, sie schaut an uns und am Maler vorbei in die Weite, das schöne Gesicht wachsam und selbstbewusst, die Haltung majestätisch. Sie trägt einen Fingerring, dazu Blumen: Eine steckt zwischen den Fingern, weitere sind um ihren Kopf drapiert. Gemalt wurde farbgewaltig und kontrastreich: dunkles Blau, sattes Gelb und Rotbraun im Hintergrund. Über dem streng gezogenen Scheitel der Frau steht die Inschrift «Vahine no te Tiare», rechts oben wächst aus einer Blume die Signatur: P. Gauguin.
Es ist das allererste Bild, das der französische Maler Paul Gauguin von der Südpazifikinsel Tahiti nach Paris schickte. 1891 war er dorthin entflohen, getrieben von Welt- und Stadtflucht, modernem Ennui, romantischen Sehnsüchten. Bezahlt hatte sein Ticket die französische Kolonialverwaltung. Der Auftrag: den Archipel Polynesien und seine Menschen zu porträtieren.
Viele Spannungen also, die in Gauguins Gemälde mitschwingen. Darunter nicht zuletzt seine Enttäuschung über das direkt nach seiner Ankunft von ihm als verloren erklärte Paradies. Auch im übertragenen Sinn erschien ihm diese Südseeschönheit zugeknöpft und distanziert – bereits uniformiert von der französischen und christlichen Kultur; die erhoffte Exotik ist bloss noch zu erahnen, kommt quasi als Blumenkonserve daher.
«Mystik und Erotik»
Wie die Ausstellung «Why Are You Angry?» in der Alten Berliner Nationalgalerie gekonnt auffächert, ist das Spätwerk des 1903 auf der polynesischen Insel Hiva Oa mit 54 Jahren verstorbenen Gauguin nur zu verstehen, wenn man sein konfliktreiches Verhältnis zu Tahiti genau unter die Lupe nimmt. Die kleine Schau zeigt die – teils witzige, teils etwas angestrengte – Auseinandersetzung zeitgenössischer polynesischer Künstler:innen mit Gauguins Erbe, bündelt aber auch die seit Jahren erarbeitete postkoloniale und feministische Kritik an seiner Südseeobsession.
Diese kritische Konfrontation ist älter, als man heute vielleicht denkt. Schon 1989 hat die New Yorker Kunsthistorikerin Abigail Solomon-Godeau in ihrem Essay «Going Native» (etwa: «Eingeboren werden») viele Problemzonen benannt: die Diskrepanz zwischen der kolonialen Realität und ihrer retroaktiven Verklärung als unberührtes Paradies – eine Sehnsucht, die Gauguin durchaus bediente; die exotisch-erotische Vermengung der vermeintlich unberührten Natur und Frau in den europäischen Köpfen; den Skandal, dass sich hier ein Repräsentant der Kolonialmacht zum «Wilden» stilisierte, mit minderjährigen Frauen zusammenlebte und diese Beziehungen in seinem halbfiktionalen Tagebuchroman «Noa Noa» für die französischen Leser:innen als etwas ganz Normales zurechtschrieb.
Da verwundert es schon etwas, dass weder der aktuelle Wikipedia-Eintrag zu Gauguin noch die letzte grosse Schau seiner Werke in der Schweiz, die 2015 von der Fondation Beyeler ausgerichtet wurde, diese grundlegende Kritik angemessen reflektiert. Von «idyllischen Landschaften» war da im Ausstellungstext die Rede und von «sinnlichen Frauengestalten». Der Künstler feiere in den Tahitigemälden «seine Idealvorstellung von einer unversehrten exotischen Welt» – und verbinde darin «Natur und Kultur, Mystik und Erotik, Traum und Wirklichkeit auf harmonischste Weise».
Im Katalog zur Basler Ausstellung ist die Darstellung etwas differenzierter. Aber auch dort entsteht der Eindruck, die postkoloniale Kritik sei ein lästiges Gespenst, das man verscheuchen möchte, um wieder ungehindert mit den alten Kategorien hantieren zu können: Meisterwerke, Weltkunst, Harmonie – Gauguin als «der grosse untröstliche Magier».
Dabei geht vergessen, dass der Künstler selber kaum einfach auf Harmonie aus war und dass diese alten Kategorien oft mehr verstellen als erhellen. Mit einer postkolonial und feministisch geschliffenen Brille lässt sich dagegen sehr viel Aufschlussreiches aus diesen Bildern herauslesen. Wenn Gauguin als Meisterwerkmaler und Ikone der Moderne auch in Zukunft Bestand haben soll – wofür es gute Gründe gibt –, müssen Kunstkenner:innen und Publikum diese Erkenntnisse endlich systematisch mitdenken: im Sinne einer rettenden Kritik.
Künstlerische Sackgassen
Eine wiederkehrende Behauptung der Gauguin-Rezeption ist etwa, er habe seine Reise in die Südsee angetreten, um sich einen jungfräulichen Blick auf die Welt zurückzuholen. Und er sei getrieben gewesen von der Suche nach dem «Ursprünglichen». Diese Erklärung überblendet banalere Faktoren, die biografisch näher lagen: seine Flucht vor Frau und Kindern, seine Midlife-Crisis, sein Hadern als Künstler. Biografisch verbürgt ist auch die Tatsache, dass ihm die Idee, nach Tahiti zu reisen, nach mehreren Besuchen der Pariser Weltausstellung von 1889 kam, wo Frankreich seine kolonialen «Eroberungen» zur Schau stellte. Eine nachgebaute Hütte von «Eingeborenen» Polynesiens hatte es Gauguin besonders angetan. Tahiti verspreche ein einfaches Leben «ohne materielle Sorgen und Geld», schrieb er an einen Malerkollegen.
Sein Wunsch nach etwas «Ursprünglichem» war also von Beginn weg gefiltert und vorgeformt durch die Inszenierung der Kolonialmacht. Bereits als die Missionare und dann die Kolonialtruppen zum ersten Mal ihren Fuss in den Sand von Tahiti setzten, veränderten sie diesen Sand und seine Umgebung unwiderruflich. Für Gauguin als späteren Eindringling blieb ein authentisches Davor sowieso verstellt. Und natürlich ist auch die Behauptung eines früheren paradiesischen Zustands eine christlich geprägte Projektion. Dazu kommt, dass Gauguin es ohne finanzielle Unterstützung der Kolonialherren gar nie bis in den Südpazifik geschafft hätte – was ihn nicht daran hinderte, seine Sponsoren später auch zu kritisieren.
Fotografische Vorlagen
Ebenfalls bezeichnend: Gauguin malte oft nicht nach der Natur, sondern benutzte Fotografien als Vorlagen, die er mit auf die Reise genommen hatte; ein Medium, das er vorgab zu verachten. In Berlin wird etwa das Beispiel eines beliebten Gauguin-Motivs analysiert, das eine junge Frau zeigt, die anmutig an einer Wasserquelle trinkt, Titel: «Mysteriöse Quelle». Auf der fotografischen Vorlage ist deutlich eine Rohrkonstruktion zu sehen, es handelt sich also nicht um eine paradiesische Naturszene, sondern um einen fix installierten Brunnen. Was die Berliner Schau allerdings unterschlägt: Auch auf Gauguins Bildern ist ein Rohr zu erkennen, das bei ihm etwas unvermittelt aus der idyllischen Natur ragt.
Sogar wenn Gauguin Tahiti in einen erfundenen Zustand «vor der Zivilisation» zurückmalen wollte, bleiben deren Spuren in vielen Bildern sichtbar: Die Werke sind «klüger» als ihr Erschaffer und auch als viele ihrer Kritiker:innen. Das gilt für die traditionelle Kunstbetrachtung wie für die postkoloniale Kritik. Die einen geben an, er habe das unberührte Paradies, das er auf Erden nie gefunden habe, in seiner Kunst wiederauferstehen lassen – und bezeichnen ihn so bewundernd wie verharmlosend als Erotomanen, Avantgardisten und Genie. Manche Exponent:innen einer postkolonialen Lesart wiederum betonen, Gauguin habe als pädophiler Sextourist das echte Tahiti mit seinen exotistischen Fantasien zugekleistert oder sie sich zumindest unrechtmässig angeeignet.*
Beide Lesarten zielen am Potenzial der Bilder vorbei. Denn in ihnen ist eine komplexere historische Wahrheit gespeichert, die weit über künstlerische oder kritische Absichten und biografische Abgründe hinausweist. Gauguins Bilderwelt sagt weniger über Tahiti und seine Bewohner:innen als vielmehr über den Clash von westlichen Fantasien und Projektionen mit einer erstaunlich robusten Realität aus. Das illustriert in der Berliner Ausstellung auch ein Video einer polynesischen Frauenrunde, die sich zuerst auf unterhaltsame Weise über die seltsamen Frauenporträts des toten Franzosen lustig macht. Bis sie merken, dass etwa diese «Vahine no te Tiare» – was «Einheimische Frau mit Blume» bedeutet – bis heute viel mehr Power hat als ihr Schöpfer. Ihr muss auch niemand etwas von einem verlorenen Paradies erzählen.
«Why Are You Angry?» ist noch bis am 10. Juli 2022 in der Alten Nationalgalerie in Berlin zu sehen. Den Katalog gibt es für 28 Euro im Webshop: www.smb-webshop.de.
* Korrigendum vom 7. Juni 2022: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion wurde an einer Stelle des Artikels der Südpazifik mit der Karibik verwechselt.