«Sonne, los jetzt!»: Und fröhlich geht die Welt zugrunde
Was für eine Uraufführung: Nicolas Stemann adaptiert Elfriede Jelineks Textkunstwerk zum Klimawandel für die Bühne, und im Schauspielhaus Zürich bleibt nicht einmal von der Sonne im Zentrum etwas übrig.
Wenn Elfriede Jelinek die Welt untergehen lässt, braucht es vielleicht einen Disclaimer. So muss sich das Kointendant Benjamin von Blomberg wohl gedacht haben, als er das Premierenpublikum von «Sonne, los jetzt!» noch im Foyer des Schauspielhauses Zürich anwies: «Entspannen Sie sich, schauen Sie assoziativ.» Das ist irgendwie doppelt ironisch, denn natürlich ist nicht die Literaturnobelpreisträgerin am drohenden Weltuntergang schuld, sondern die Klimaerhitzung, die im Zentrum ihres neuen Stücks steht. Und entspannen sollten wir uns angesichts dieser Tatsache auch nicht unbedingt.
Ziemlich durchtrieben, wie hier das Publikum ins Geschehen mitverstrickt wird.
«Es ist zu spät», heisst es schon zu Beginn des zweiten Akts, und immer wieder wird die Frage verhandelt: «Können Sie sich vorstellen, tot zu sein, endlos?» Jelinek giesst dieses Unvorstellbare in Sprache, in einen poetischen, rhythmischen, lautmalerischen Wortfluss, der sich in Assoziationsketten windet, wütend aufschäumt und sich unvermittelt in Kaskaden von Kalauern kringelt. Ihre Textvorlage ist eine Art Stream of Consciousness, den sie der Sonne als Monolog in den Mund legt. «Vom Himmel hoch, da komm ich her, und versteck der Kinder Keime», sagt sie. «Ich verbrenne die Länder und hinterlasse nichts, für keinen, Geschlecht egal, denn nach uns wird kein Geschlecht mehr kommen.» Und dazwischen, maliziös: «Gehe ich Ihnen schon ab? Das macht nichts, ich gehe sowieso irgendwann mal ab. Ich gehe ab, bin aber nicht weg, ich bin woanders, ich komme wieder, alle Tage, keine Frage.»
Doch wer spricht da eigentlich? Dieses Ich kippt immer wieder ins Wir, es ist kein Individuum, es ist viele – es ist Mann, es ist Frau, es ist Kind, es ist Gott, und manchmal, ist es da nicht auch eine Biene oder ein Baum? Sitzt es nicht mitten unter uns und beschwört die kosmologische Wende, zu der uns laut dem Philosophen Bruno Latour die Klimakatastrophe zwingt?
Im Stück auf der Bühne, so viel steht fest, ist dieses Ich auch Greta Thunberg. «How dare you», ergiesst sie ihren Zorn, den sie der Uno-Vollversammlung am Klimagipfel 2019 entgegenschleuderte, immer wieder aus dem Off ins Theaterpublikum. «You are failing us! We will not let you get away with this!»
«Wir singen, damit Sie es verstehen»
Doch bevor es so laut wird, beginnt der Abend still und leise, im Dunkeln, der Vorhang noch geschlossen. «We are the hollow men», hebt die leicht belegte Stimme von Tom O’Bedlam an und wird über vier Minuten lang das gleichnamige Gedicht von T. S. Eliot rezitieren, das mit den Worten schliesst: «This is the way the world ends, not with a bang but a whimper.» Was manchen als weitere Zumutung eines aktuell vielgescholtenen Intendantenduos erscheinen mag (Englisch!), ist tatsächlich eine kongeniale Rahmung.
Zum einen setzt sie die Stimmung für den Auftakt auf der Bühne, wo im fahlen Licht einer weiss beschichteten Scheibe, die als Sonne über allem schwebt, fünf schwarz vermummte Figuren mit Spraydosen eine Art Totentanz in Zeitlupe aufführen. Zum andern hallen Passagen aus Eliots fünfstrophigem Gedicht, in dem der Defätismus die aufkeimende Hoffnung immer wieder niederringt, über den Lauf der fünf Akte in Nicolas Stemanns Inszenierung nach: manchmal nur als entferntes Echo, dann wieder in konkreten Phrasen und Bildern.
«Die Unendlichkeit können Sie nicht ausprobieren, probieren Sies lieber an Bäumen, bevor die vor Ihren Augen in Flammen aufgehen», wird da einer auf der Bühne angewiesen, und manche im Publikum sehen vielleicht Napalmbomben, die auf Urwald fallen, und haben Marlon Brandos Stimme im Ohr, der als Colonel Kurtz in «Apocalypse Now» mit Eliots Gedicht ringt.
Andere denken an die Abholzung des Amazonas, die bald einen Kipppunkt überschreiten könnte, der den Pfad in die Klimakatastrophe besiegelt – und verfolgen doch lachend die slapstickartigen Szenen zwischen der hibbeligen Baumreihe und der Figur, die erst mit viel «brmbrm» die Reihe entlangfährt, um schliesslich entnervt zur Luftkettensäge zu greifen.
Ziemlich durchtrieben, wie hier das Publikum ins Geschehen mitverstrickt wird. Wo wir zu Beginn des zweiten Aktes erst gestenreich aufgefordert wurden, mit den schwarzen Sturmhaubenfiguren mitzusingen, klang nur kläglich «Es ist zu spät» aus den Plüschsitzen zurück. «Das ist jetzt wichtig, das ist Wittgenstein, deshalb dachten wir, wir singen das jetzt», richtet eine Figur später den Finger direkt aufs Publikum. «Das wird gesungen, damit Sie es verstehen.» Und manch einer, der da noch lacht, möchte wohl lieber in den Chor einstimmen, wenn sie auf der Bühne schreien, immer wieder: «Das alles hat nichts mit mir zu tun!»
Die «Blue Marble» hängt in Fetzen
Stemann, der bereits zum zehnten Mal ein Werk von Jelinek für die Bühne adaptiert, findet eingängige, aber nie platte Bilder, um den Textschwall der Autorin in Szenen zu formen und gleichzeitig unseren Umgang mit der drohenden Klimakatastrophe zu veranschaulichen. Da ist das Absperrband, Symbol für die planetaren Grenzen, das die Figuren kreuz und quer über die Bühne spannen, um es gleich darauf wieder niederzureissen. Oder die Erde als aufgeblasener Plastikball, der mal zärtlich jongliert, mal mit Füssen traktiert wird – wer dächte nicht an Charlie Chaplins «Grossen Diktator».
Am eindrücklichsten aber ist, wie auf der Bühne alles morpht und sich verwandelt, wie es kippt und überrascht, von der Sprache über die Figuren bis zum Bühnenbild (Katrin Nottrodt). Im Zentrum natürlich: die Sonne, deren «Haut» im Verlauf der gut zwei Stunden Risse bekommt und sich zunehmend auflöst, bis nur noch Fetzen von ihr übrig bleiben. Erst ist sie blanke Projektionsfläche, auf der ihre verschiedenen Gesichter erscheinen und monologisieren, dann beginnen die Figuren, sie zu besprühen und an ihr herumzuschnipseln, und plötzlich hängt da die Erde als «Blue Marble», wie man sie aus dem Weltraum sieht. Und wo zuvor noch eine Badende im Plastikwellenmeer ertrank, wird auf ihrer Leiche unterm bleichen Plastikberg in Windeseile die Mondlandung reinszeniert, mit Schweizer Fahne. Nein, der Overview-Effekt aus dem All, von dem es heisst, er verändere die Wahrnehmung der Welt, will sich nicht einstellen.
Auch die Figuren (Alicia Aumüller, Daniel Lommatzsch, Karin Pfammatter, Sebastian Rudolph, Lena Schwarz, Patrycia Ziolkowska) sind keine Individuen, sie sind viele und tragen keine Namen. Schwarz vermummt gemahnen sie an eine militante Klimajugend, doch bald schon häuten sie sich, drehen Pirouetten in raschelndem Glitter, verschwinden hinter Schutzanzügen, die auch für Kosmonauten taugen, liegen im Bikini am Strand, rocken in barocken Röcken und Perücken auf dem «Highway to Hell». Sie wechseln gar die biologische Kategorie, werden Baum, dann Tier – es nützt ihnen nichts. Als Gorilla und Eisbär auf der Bühne stehen, ist der Mensch bereits ausgestorben, 2058 war das.
Zum Schluss brennen nur noch ein paar Lagerfeuer, die schwarz Vermummten stehen im Hintergrund und verschwinden, sich verbeugend, im Dunkeln. Zurück bleibt ein seltsam bandagiertes Wesen, das über die Bühne robbt: ein überdimensioniertes Bärtierchen, es allein mag auch widrigsten Umweltbedingungen noch trotzen. Und bevor alles erlischt, hebt Tom O’Bedlam ein letztes Mal an.
Auf diese Weise endet die Welt – nicht mit einem Knall, sondern einem Wimmern.
«Sonne, los jetzt!» Von Elfriede Jelinek. Inszenierung: Nicolas Stemann. Schauspielhaus Zürich, bis 1. Februar 2023.