Ein Traum der Welt : Unruhe in Prishtina

Nr.  1 –

Annette Hug sieht die Anfänge woanders

In einer ersten Sitzung zum Buch, das zu schreiben war, blitzte die folgende Idee auf: Man könnte die Geschichte des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) ganz anders erzählen. Dass die Texte von den Arbeitenden selbst und möglichst wenig von Kongressbeschlüssen und Strukturen handeln sollten, war klar. Aber liesse sich diese Ausrichtung noch radikalisieren? Könnte man die organisatorische Struktur als Gerüst der Erzählung ganz weglassen und fragen: Woher kommen all die Leute, die heute Mitglied einer Gewerkschaft sind? Welche Konflikte, Gewohnheiten oder Hoffnungen haben sie dazu gebracht, beizutreten?

Die Sitzung muss etwa im Jahr 2003 stattgefunden haben, damals war bereits die Mehrheit der Unia-Mitglieder nicht in der Schweiz aufgewachsen. Wir stellten uns eine Geschichte mit weit verstreuten Anfängen und Ursprüngen vor: Wo hatten die italienischen Kommunisten, die in den sechziger und siebziger Jahren auf Schweizer Baustellen anheuerten, zum ersten Mal gestreikt? Was hatten ihre Eltern vom Krieg berichtet? Die Geschichte der Schweizer Gewerkschaften wäre zu erzählen vom spanischen Galizien her und aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka, der seit den achtziger Jahren Tamilen und später auch Tamilinnen in die Schweiz trieb. Die Asylpolitik kanalisierte sie zuerst ins Gastgewerbe.

Als kulturelles Umfeld der politisierten Arbeiter:innen wären neben den Naturfreunden und Heavy-Metal-Bands auch die Liberation Tigers of Tamil Eelam zu beschreiben. Ein langes Kapitel würde sich dem Jahr 1989 widmen, allerdings nicht im Berlin des Mauerfalls, sondern in Prishtina. Die Regierung des damaligen Jugoslawien liess Truppen in die Region Kosovo einmarschieren und hob deren Autonomiestatus auf. Es begann ein Jahrzehnt der scharfen Repression gegen alle, die sich für eine albanische Unabhängigkeit oder Autonomie engagierten – in der Universität Prishtina zum Beispiel, die offiziell geschlossen war, aber selbstverwaltet und klandestin weiter funktionierte. Immer mehr Student:innen und Aktivist:innen flohen, nicht wenige in die Schweiz. Einige wurden Gewerkschaftssekretär:innen. Sie trugen dazu bei, dass die Ausschlussklausel der direkten Demokratie für die Gewerkschaften nicht gilt. Während die Verfassung ein Viertel der Bevölkerung vom Stimmrecht ausschliesst, ist gewerkschaftliche Solidarität nicht an den Pass geknüpft.

Das Buch, das 2006 unter dem Titel «Vom Wert der Arbeit» erschien, folgt einer klassischen Chronologie, öffnet aber Fenster zu Geschichten, die quer hineinkommen. Jener Aufbruch in Prishtina, der die Unia verändert hat, ist mir aus mündlichen Erzählungen des Kollegen Osman Osmani präsent. Ich hoffe, dass diese irgendwann auch als Buch erhältlich sein werden.

Die Fantasie jener ganz anderen Geschichte des SGB ist haften geblieben und hat über die Festtage dazu geführt, dass mir die Nachrichten über die erneute Kriegsgefahr im Kosovo wie Nachrichten aus dem Inland vorkamen. Die Furcht vor einer Eskalation ist körperlich. Und ich möchte Osman Osmani gerne fragen: Wie war es eigentlich möglich, dass sich mitten in den neunziger Jahren, also während der Bürgerkriege, Leute aus allen verfeindeten Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien in denselben Gewerkschaftssektionen organisierten?

Annette Hug ist Autorin und Gewerkschaftsmitglied. Sie nimmt das Buch «Vom Wert der Arbeit. Schweizer Gewerkschaften – Geschichte und Geschichten», herausgegeben von Valerie Boillat, Bernard Degen, Elisabeth Joris, Stefan Keller, Albert Tanner und Rolf Zimmermann, illustriert von Roland Gretler, immer noch gerne und mit Gewinn zur Hand.