Nach dem Attentat in Paris: Viele Fragen sind noch immer unbeantwortet
Am 23. Dezember wurden im Centre Culturel Kurde Ahmet Kaya, einem kurdischen Kulturverein mitten in der Pariser Innenstadt, drei Menschen ermordet. Mîr Perwer, Abdurrahman Kızıl und Emine Kara wollten dort eine Demonstration planen, als der 69-jährige Rassist William M. sie kurz vor Mittag erschoss. Der Täter war vorbestraft, 2021 hatte er eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen. Wegen weiterer rassistischer Gewalttaten wurde er letztes Jahr zu einer Haftstrafe verurteilt, Mitte Dezember aber entlassen.
Die Pariser Staatsanwaltschaft sieht im rechtsradikalen Rentner einen Einzeltäter, der wahllos «Ausländer:innen» töten wollte. Was schlimm genug wäre – aber bei vielen Kurd:innen in Frankreich offene Fragen hinterlässt. Die Demo, die an jenem Tag vorbereitet werden sollte, gilt dem Gedenken an den zehnten Jahrestag des Attentats auf Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez: Die drei Kurdinnen wurden am 9. Januar 2013 im selben Stadtviertel von einem Mann mit mutmasslichen Verbindungen zum türkischen Geheimdienst getötet. Und genau wie damals die PKK-Mitgründerin Sakine Cansız befindet sich mit Emine Kara auch diesmal eine prominente kurdische Kämpferin unter den Opfern. Gemäss Augenzeug:innen soll der Täter zuerst auf sie geschossen und am Ende mit weiteren Schüssen sichergestellt haben, dass sie nicht überlebt.
Das Timing, der Ort, der Fokus auf die als Evin bekannte Kämpferin: Allein dies lässt eine ungezielte Tat unwahrscheinlich erscheinen. Und die kurdische Gemeinschaft in Frankreich hat weitere Fragen. Wer hat den Täter im Auto in die Nähe des Tatorts gefahren? Warum attackierte dieser ausgerechnet eine kurdische Einrichtung? Und wieso hat die Polizei eine Woche nach dem Attentat unweit des Kulturzentrums ein Auto kontrolliert gesprengt, in dem sie zuvor Spionagehardware gefunden hatte? Frankreichs kurdischer Dachverband CDK-F äusserte die Vermutung, dass die türkische Regierung hinter dem Attentat steckt.
Zusätzlich zu all den Unstimmigkeiten und zum Unwillen der französischen Justiz, diesen Fall als möglicherweise gezieltes politisches Attentat zu untersuchen, ist etwas anderes schockierend: das Desinteresse nicht nur der europäischen Öffentlichkeit, sondern insbesondere auch anderer migrantischer Gemeinschaften. So treibt die Kurd:innen in Europa derzeit eine weitere Frage um: Wo bleibt die oft beschworene innermigrantische Solidarität?