Türkei: Wer kontrolliert die Regierung?

Nr. 8 –

In der Türkei tobt ein Machtkampf zwischen Polizei, Justiz, Geheimdienst und Regierung. Es geht wieder einmal um die Frage, wie das sogenannte Kurdenproblem gelöst werden soll.

Wie meist in kritischen Situationen meldete sich auch diesmal der Industriellenverband Tüsiad zu Wort. «Gerade haben wir noch darüber gesprochen, dass alles demokratischer werde», sagte dessen Vorsitzende Umit Boyner, «und schon sind wir wieder auf eine neue Mine getreten. Wir beobachten den Streit [im Staatsapparat] mit grosser Sorge.»

Merkwürdige Meldungen machen derzeit in der Türkei die Runde: Das Arbeitszimmer eines der Regierung nahestehenden hohen Verwaltungsrichters ist verwanzt – und keiner weiss, wer ihn abhört. Ein Staatsanwalt in Istanbul lädt den Chef des türkischen Geheimdiensts MIT, Hakan Fidan, als Beschuldigten vor. Er soll mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhandelt und weitreichende Zugeständnisse gemacht haben. Gegen Fidans Vorgänger Emre Taner und eine Agentin im leitenden Stab des Geheimdiensts wurde deshalb gar Haftbefehl erlassen, heisst es in der türkischen Presse.

Tatsächlich hatte Regierungschef Tayyip Erdogan bereits im August 2010 in einem Fernsehinterview eingestanden, dass es solche Treffen auf seine Veranlassung hin gegeben habe. Das sei schliesslich der Job des Geheimdiensts. Kann also ein Staatsanwalt die Politik einer gewählten Regierung vor Gericht zerren? So absurd es klingt – das türkische Justizsystem aus der Zeit des Militärputsches von 1980 öffnet den Staatsanwaltschaften diese Tür. Nach wie vor steht ein Teil der Justiz der Regierung sehr kritisch gegenüber. Der Regierungschef selber konnte zunächst nicht einmal reagieren, er lag im Krankenhaus auf dem OP-Tisch. Hatte die Justiz auch den Zeitpunkt ihres Vorstosses genau bedacht?

Und noch eine merkwürdige Meldung: Der Polizeichef von Istanbul entlässt zwei hohe Polizeioffiziere, neun weitere Beamte, ebenfalls aus der Antiterroreinheit, werden ins Finanzministerium versetzt. Sie alle waren für die Razzien gegen die PKK-nahe Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) verantwortlich. Die 2005 gegründete KCK gilt als der politische Arm der PKK in den Städten des Landes. Wie ist das wieder zu deuten? Und wie hängt das mit dem Streit zwischen Geheimdienst, Regierung und Justiz zusammen? Gibt es gar eine Staatskrise, wie manche KommentatorInnen schreiben?

Ein hoffnungsvoller Ansatz

Doch der Reihe nach. Kein Regierungschef hat der Türkei bisher so konkrete Hoffnungen auf die Lösung der sogenannten Kurdenfrage gemacht wie Erdogan. Zwar wollte auch Staatspräsident Turgut Özal 1992 gegen den Widerstand der Armee den Krieg mit der PKK beenden. Doch dann starb er überraschend – und die Gerüchte, dass sein plötzlicher Tod keine natürliche Ursache hatte, sind bis heute nicht verstummt.

Seit dem Wahlsieg seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 ringt Erdogan mit seinen Gegnern in der Armee und der Justiz. Dass der Geheimdienst dabei eine wichtige Rolle spielt, weiss er. Suleyman Demirel, einer seiner Vorgänger, war zweimal von der Armee gestürzt worden, ohne dass ihn der Geheimdienst gewarnt hatte. 2005 gelang es Erdogan, einem Mann die Leitung des MIT zu übertragen, dem er vertrauen kann: Der 63-jährige Emre Taner kannte den Geheimdienst damals schon fast vierzig Jahre lang von innen. Taner galt als Befürworter einer friedlichen Lösung des Konflikts zwischen dem Staat und den KurdInnen im Südosten der Türkei; ausserdem verfügte er über gute Kontakte zu den kurdischen Führern Massud Barsani und Dschalal Talabani im Irak.

Zwei Jahre später, 2007, begannen die ersten Razzien gegen mutmassliche Putschisten vor allem innerhalb der Armee. Etliche der Verdächtigen zählen auch zu den energischen Gegnern einer politischen Lösung der Kurdenfrage. Bald darauf, 2008, trafen sich zum ersten Mal Mitglieder des türkischen Geheimdiensts mit Vertretern der PKK in Oslo.

Wenige Monate danach testeten die PKK und die türkische Regierung die Rückkehr von PKK-KämpferInnen und ihren Angehörigen aus Lagern im Nordirak in die Türkei. 34 PKK-Mitglieder kamen zurück; es war ein Triumphzug für sie, überall jubelten ihnen KurdInnen zu – für die Regierung ein Desaster. Die PKK als politische Kraft im Südosten könnte der Regierung vielleicht mehr schaden, als ihr das Image einer Friedensstifterin nützen würde, so die Befürchtung in Ankara.

Der Kurswechsel

Damals habe die Regierung beschlossen, dass zunächst die PKK geschwächt werden müsse, bevor man mit der Lösung der Kurdenfrage fortfahren könne, sagte der Chef des türkischen Forschungsinstituts Tesev, Can Paker, Anfang Februar in einem Interview mit der Tageszeitung «Hürriyet». Can Paker gehört zu den zwanzig einflussreichsten Personen in der Türkei. Sein Institut hat die Regierung bei der Übernahme der Kontrolle über das Militär beraten und auch die Sachfragen zur Lösung des Kurdenproblems mitvorbereitet.

Kurz nach dem Beschluss begannen landauf, landab Razzien gegen die KCK. Den Festgenommenen warf man vor, staatsähnliche Strukturen im ganzen Land aufbauen zu wollen. Und die zurückgekehrten PKK-Mitglieder wurden angeklagt, PKK-Mitglieder zu sein.

2010 wurde Emre Taner pensioniert und Hakan Fidan Chef des türkischen Geheimdiensts. Auch Fidan ist ein enger Vertrauter Erdogans und hatte bis dahin im Büro des Regierungschefs gearbeitet. Die Razzien gegen die KCK nahmen zu. KritikerInnen auch ausserhalb der Türkei warnten: Die Regierung räume unter dem Deckmantel «Razzia gegen die PKK» nun mit allen auf, die ihr irgendwie im Weg zu sein scheinen. Tausende wurden (und werden bis heute) verhaftet, darunter zahlreiche gewählte Bürgermeister im Südosten des Landes; auch die Justizprofessorin Büsra Ersanli ist darunter, die kurdische Abgeordnete des türkischen Parlaments in Ankara in der Kommission zur Verfassungsreform vertreten sollte. Sogar AutorInnen und Verleger wie Ragip Zarakolu sitzen inzwischen in Untersuchungshaft; Anfang Februar haben schwedische Abgeordnete den Menschenrechtler Zarakolu für den Friedensnobelpreis nominiert. Vergangene Woche wurden gar drei Gewerkschaftszentralen gestürmt.

Die Polizei, die die Razzien gegen die KCK vornahm, entdeckte derweil wiederum Merkwürdiges: Immer häufiger wurden festgenommene KCK-Mitglieder als Agenten des türkischen Geheimdiensts MIT enttarnt, etliche gar in der Führung der KCK. Diese Agenten hätten als KCK-Mitglieder und -Führer schwere Straftaten begangen, deshalb sei der Chef des Geheimdiensts vorgeladen worden, verteidigt sich nun die Justiz. Aber wer verteidigt sich da genau? Das bleibt geheim – derzeit sprechen JustizvertreterInnen nur mit Presseorganen, die ihnen Anonymität zusichern.

Und wie reagiert die Regierung? Zunächst entliess sie die Polizisten, die ihre Ermittlungsergebnisse über die MIT-Agenten in der KCK an die Justiz weitergegeben hatten. Dann wurde dem Staatsanwalt, der den Geheimdienstchef vorgeladen hatte, das Mandat entzogen. Der Hohe Justizrat, dessen Zusammensetzung die Regierung inzwischen zu ihren Gunsten verändert hat, eröffnete ein Ermittlungsverfahren gegen ihn: Er habe seine Kompetenzen überschritten. Und dann liess der Regierungschef ein neues Gesetz entwerfen, demzufolge gegen aktive Mitglieder seines Geheimdiensts nur dann ermittelt werden darf, wenn er selbst dazu die Genehmigung erteilt hat.

«Typisch Türkei!», schrieb vor kurzem der Chefredaktor der Tageszeitung «Taraf», Ahmet Altan. Es gebe ein absurdes Justizsystem, das noch aus den Zeiten des Militärputschs 1980 stamme. Aber statt diese Absurdität zu beseitigen, werde ein anderes absurdes Gesetz verabschiedet, das Beamte und die Politik vor der Justiz schützen soll.

Tatsächlich hat die AKP-Mehrheit im Parlament eine Art Immunitätsgesetz für den öffentlichen Dienst verabschiedet. Ermittlungen gegen BeamtInnen sind nun erst möglich, wenn die jeweiligen Vorgesetzten das erlauben. Bei BeamtInnen mit «besonderen Aufgaben» kann nur der Regierungschef die Genehmigung erteilen. Zwar kontrolliert die Politik inzwischen mehr und mehr auch die Sicherheitsorgane – aber wer kontrolliert die Regierung? Für den Souverän, die Bevölkerung, bleiben Entscheidungen und Massnahmen nach wie vor undurchschaubar. Noch immer lauten die Schlüsselworte in der türkischen Politik «geheim» und «anonym». Der staatliche Druck auf die Presse führt ausserdem dazu, dass auch in den Zeitungen kaum noch Kritik an so viel Undurchsichtigem zu lesen ist.

Ein blutiger Frühling?

So bleiben auch die Pläne der Regierung hinsichtlich der PKK und der Kurdenfrage im Dunkeln. Das Forschungsinstitut Tesev hatte schon vor über einem Jahr eine Art Roadmap verfasst, wie ein Waffenstillstand erreicht und die PKK entwaffnet werden könnte. Der Plan umfasst auch Gesetzes- und Verfassungsänderungen, die es ermöglichen würden, auf die Forderungen der KurdInnen einzugehen. Das immerhin ist neu. So weitgehende und konkrete Pläne gab es bisher noch nie.

Aber öffentlich ist wenig bekannt. Hat die Regierung einen «Kurdenplan»? Und will sie ihn umsetzen? In der Vergangenheit verwies Erdogans Kabinett immer wieder auf den geplanten grossen Wurf einer neuen Verfassung. Ende Januar jedoch verblüffte die Verfassungskommission des Parlaments die Öffentlichkeit mit dem Beschluss, die Vorschläge zu einer Verfassungsänderung nicht mehr zu veröffentlichen. Sie würden geheim gehalten, um jene zu schützen, die Anträge einreichen.

Gute Wirtschaftsdaten, wachsendes internationales Ansehen, kaum parlamentarische Opposition: All das verschafft Erdogans AKP nach wie vor Umfragewerte von gut fünfzig Prozent Zustimmung – und entsprechend viel Spielraum. Hört man auf Gerüchte aus Ankara – natürlich aus anonymen Quellen –, plant Erdogan Mitte Jahr einen neuen Anlauf zur Lösung der Kurdenfrage. Schon zu Jahresbeginn hatte der AKP-Abgeordnete aus Diyarbakir, Galip Ensarioglu, gewarnt, dass es seine Partei ohne Schritte hin zu einer Lösung der Kurdenfrage und zu einer Verfassungsreform bei den Kommunalwahlen 2013 schwer haben werde. Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie BDP, befürchtet jedoch erst einmal einen blutigen Frühling.

Der Konflikt im Zeitraffer

1984  Erste bewaffnete Aktion der 1978 gegründeten PKK im Südosten der Türkei.

1992 Staatspräsident Turgut Özal sucht nach einer politischen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts, dem bis dahin Zehntausende zum Opfer gefallen sind. 1993 stirbt Özal überraschend.

1994 Kurdische Abgeordnete des Parlaments in Ankara werden wegen Mitgliedschaft bei einer respektive Unterstützung einer «Terrororganisation» zu langen Haftstrafen verurteilt.

1999 PKK-Chef Abdullah Öcalan wird in Kenia festgenommen und in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt.

2004 Bei den Kommunalwahlen ziehen wieder Abgeordnete einer kurdischen Partei in die Parlamente ein. Seit 2007 sitzen sie auch im Landesparlament.

2005 AKP-Regierungschef Tayyip Erdogan erklärt öffentlich, dass es ein «Kurdenproblem» gibt, das die Regierung lösen muss.

2009 Erdogan kündigt einen Plan zur «Lösung der Kurdenfrage» an, der 19. seit 1980.

2011 Die PKK erklärt zum wiederholten Mal den Waffenstillstand, hebt ihn aber nach der Parlamentswahl wieder auf. Bisher hat der Konflikt rund 50 000 Menschen das Leben gekostet.