Sachbuch: Gegen das Boomerdenken

Nr. 1 –

In seiner Streitschrift «Die Realität schlägt zurück» zieht der Soziologe Benjamin Bratton Lehren aus der Pandemie – und plädiert für eine neue Form der Biopolitik.

Scheu vor der Kontroverse kennt Benjamin Bratton nicht. Auf Youtube findet sich ein Ted-Talk des US-Soziologen und Designtheoretikers aus dem Jahr 2013, den er allein dem Ziel gewidmet hat, mit ebendiesem populären Vortragsformat abzurechnen: Ted-Vorträge – die Abkürzung steht für «Technology, Entertainement, Design» – würden komplexe Sachverhalte auf unzulässige Weise vereinfachen und das Publikum dazu erziehen, Effekthascherei mehr zu goutieren als das harte Brot wirklicher Forschung. Zudem reduzierten sie allzu oft soziale auf technische Probleme. Auch nach zehn Jahren ist Brattons zwölfminütige Philippika sehenswert.

Diese Lust zur Zuspitzung kennzeichnet nun auch sein neues Buch: «Die Realität schlägt zurück. Politik für eine postpandemische Welt». Bratton, der an der Universität von San Diego lehrt, nimmt sich darin unter anderem Teile der akademisch geschulten Linken zur Brust, die während der Pandemie mit unglücklichen bis bizarren Wortmeldungen Aufsehen erregt haben. Das betrifft vor allem Giorgio Agamben: Der italienische Philosoph ging sogar so weit, Professor:innen, die ihre Vorlesungen online statt in überfüllten Hörsälen hielten, mit faschistischen Kollaborateur:innen zu vergleichen.

Agamben mag ein extremes Beispiel sein, für Bratton steht er aber für eine ganze intellektuelle Tradition, der er den Spottnamen «Boomer Theory» verpasst. Diese sei auf die Meisterdenker von 1968 und den Jahren danach zurückzuführen – etwa Michel Foucault – und durch eine grundsätzliche Schieflage charakterisiert: Einerseits glänze das Boomerdenken durch aussergewöhnliche Kapazitäten in Sachen Kritik und Dekonstruktion, andererseits verharre es im Negativen. Bratton dagegen interessiert, wie aus der Gegenwart eine lebenswerte Zukunft entworfen werden kann.

Blamierte Demagog:innen

Dafür aber müsse man aufhören, überholten Konzepten nachzutrauern, fordert der US-Soziologe. Er denkt dabei etwa an das schale Ideal des souveränen Individuums, das autonom durch die Welt schreitet. Im Fall Agambens macht er einen zweifelhaften Kritikansatz bereits in dessen berühmtem «Homo sacer»-Projekt aus. Die Überlegungen des Italieners zum Verhältnis von Politik und Biologie deutet er als «Versuch, ein vordarwinistisches Konzept des menschlichen Körpers zu verteidigen». Offensichtlich stellt ja für Agamben ein nüchterner Blick auf die menschliche Biologie, wie ihn eine Seuche erfordert, geradezu eine Kränkung dar – zumindest liesse sich so erklären, warum er staatliche Coronamassnahmen schnurstracks zur ruchlosen Biopolitik in totalitärer Absicht erklärt habe.

Nun findet man renitente Querdenker:innen aber nicht primär unter ergrauten Intellektuellen, die übermässig «French Theory» rezipiert haben. Vor allem der internationale Rechtspopulismus machte sich zum Sprachrohr von Coronaleugnerinnen und Maskenverweigerern. Bratton zufolge war die Weise, in der Figuren wie Jair Bolsonaro oder Donald Trump während der Pandemie agierten, nur folgerichtig: Populismus sei seit jeher wesentlich eine diskursive Angelegenheit, Fakten würden trotzig Ressentiments entgegengehalten. Während der Pandemie blamierten sich aber die demagogischen Strategien vor der biophysikalischen Realität, wie etwa die Todeszahlen in Brasilien zeigten. «Die Welt ist schliesslich kein Text», so Bratton lapidar.

Nun mögen Bolsonaro und Trump leichte Gegner sein, Brattons Pointe ist aber auch eine andere: Er sieht nämlich in der Neigung, die Wirklichkeit gleichsam in eine Erzählung zu verwandeln, auch das Markenzeichen bestimmter Theorietrends. Das klingt zunächst nach etwas erwartbarem Bashing diskurstheoretischer Ansätze, seine Engführung von postmodernem Denken und Populismus ist trotzdem originell. Und wenn man beispielsweise an den Postmarxismus denkt, der rhetorische Figuren zum Wesen des Sozialen erklärt, handelt es sich bei der Warnung davor, die Realität leichtfertig narrativ zu überschreiben, auch nicht bloss um ein Strohmannargument.

Regieren mit «Big Data»

Angesichts der Klimakatastrophe wird man sich jedenfalls solche Sperenzchen nicht mehr leisten können. Bratton will nicht nur die «biopolitische Verstrickung» des Menschen ins Bewusstsein rufen, ihm geht es auch darum, das planetare Immunsystem im Ganzen fit zu machen – auch mittels digitaler Technologien: Innovationen dürften nicht länger primär zu Werbezwecken auf Onlineplattformen genutzt werden, vielmehr müsse man «Big Data» endlich in den Dienst guter «global governance» stellen.

Bisweilen klingt Bratton jedoch so, als wolle er einer technokratischen Weltregierung das Wort reden. Überwachungsängste wischt er allzu leichtfertig zur Seite (diese Boomer wieder!), während von sozialen Widersprüchen kaum die Rede ist. Kein Wunder also, hat sich die Realität in der Zeit, die es für die Übersetzung des auf Englisch bereits 2021 publizierten Buchs brauchte, auch an Brattons Essay gerächt. Wenn er lobend schreibt, dass in der Pandemie gerade asiatische Regierungen «ganz gut» abgeschnitten hätten, klingt das heute angesichts der explosiven Lage in China ziemlich schräg.

Buchcover von «Die Realität schlägt zurück.»

Benjamin Bratton: «Die Realität schlägt zurück. Politik für eine postpandemische Welt». Aus dem Englischen von David Frühauf. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2022. 207 Seiten. 32 Franken.