Comic: Die Hölle ist noch nicht fertig

Nr. 2 –

Geschichten aus der Provinz, wo ausser Träumen nicht viel ist: Der italienische Comicautor Gipi erzählt sie meisterhaft. Sein grosses Werk erscheint nach und nach auch auf Deutsch.

Comiczeichnung aus «Eine Geschichte»: Eine nackte Figur läuft durch die Strassen einer Stadt
Schimmernde Aquarelle wie ein Fiebertraum: Gipi lässt seine Protagonisten durch Erinnerungen taumeln. Aus dem Band «Eine Geschichte». AVANT-VERLAG

Erzählt er eben vom Squirten, der weiblichen Ejakulation. Und von seiner Mutter, die im Sterben liegt. Irgendwie funktioniert das auf der Bühne, die Leute lachen, und er weiss nicht – soll er froh sein darüber oder sich der Leere hingeben, die sich in ihm auftut? Silvano Landi ist Stand-up-Comedian; gerade hat er wieder einen seiner Auftritte vergessen, weil er bei der Mutter in der Klinik zu Besuch war. In «Besondere Momente mit falschem Applaus» beschreibt der italienische Comicautor Gipi Landis oft hilfloses Suchen nach einem Umgang mit dem Tod, der eigenen Kindheit, all den Erinnerungen.

«Besondere Momente» ist der jüngste auf Deutsch erschienene Comic von Gipi, dem Comiczeichner aus Pisa, der in Italien schon lange niemandem mehr etwas beweisen muss. Zahlreiche Bände sind von Gian Alfonso Pacinotti, wie er bürgerlich heisst, erschienen, er hat mehrere Filme gedreht, wurde am wichtigsten Comicfestival Europas in Angoulême mit dem Preis für den besten Comicband sowie mit vielen weiteren Preisen ausgezeichnet. Ein präziser Erzähler, der sich in seinem Werk für die allzu grossen Geschichten kaum interessiert.

Es ist ein Werk voller Bubenträume. Schauplatz ist meist die Provinz, Dörfer und Kleinstädte, wo ausser diesen Träumen kaum etwas ist, im Glücksfall noch eine Familie, mit der man sich herumschlagen muss. Vergleichsweise leicht erzählt Gipi das etwa in «5 Songs» (2007), wo vier Jungen in einer Baracke vermeintlich verlassene Musikinstrumente finden und einen Sommer lang auf ihnen spielen. Viel mehr ist da nicht, und viel mehr braucht es auch nicht für eine solche Coming-of-Age-Geschichte, bei der von Anfang an klar ist, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Aber das Glück, als diese verlorenen Jungs den ersten Song spielen, Zigaretten im Mundwinkel, von ihrem Leben singen und von dem einzigen Ort, der nur ihnen gehört, trägt weit über die paar wenigen Panels hinaus.

Von den Rändern her

Ein Glück, das sich in Gipis Werk so klar sonst kaum je findet. Es sind eher die verrutschten, nicht erfüllten Bubenträume, die ihn beschäftigen, er wirft der Sehnsucht Realitäten entgegen. Gar nicht unbedingt Albträume sind das, einfach ein paar so halbwegs funktionierende Leben in der italienischen Provinz. Fehlende Väter, wenig Geld, faschistische Jugendgruppen oder die alltägliche Kleinkriminalität, Gipi zeichnet Italien von den Rändern her, ohne von den ganz grossen Übeln erzählen zu müssen. Man kann sich die Korruption da leicht hinzudenken oder das marode Gesundheitssystem, ohne dass er es explizit erwähnen müsste.

Zwei Kurzgeschichten stehen dafür exemplarisch, es sind schmale Hefte, die später unter dem Namen «Baci dalla provincia» (Küsse aus der Provinz) als Band erschienen sind. Beide sind nicht vollständig auf Deutsch übersetzt, das zweite wurde 2009 auszugsweise im «Strapazin» publiziert. In «Gli innocenti» (Die Unschuldigen, 2005) fahren Onkel und Neffe im Auto ans Meer, wo sie einen alten Freund des Onkels treffen. Der Freund war zwölf Jahre lang im Gefängnis, weil er zwei Polizisten mit einem Messer bedrohte – diese hatten es sich zum Zeitvertreib gemacht, die Jungs im Dorf zu drangsalieren, zu demütigen, über Nacht in die Zelle mitzunehmen. Nun steht dieser erst kürzlich freigelassene, gar nicht mehr so junge Mann am Strand und wirft sich mit der Schulter gegen die Tür eines leer stehenden Häuschens: Hier wohne einer der Polizisten, er habe es doch herausgefunden.

Doppelseite (1/2) aus dem Comic «Besondere Momente mit falschem Applaus» von Gipi
Aus den abgehängten Buben werden ratlose Erwachsene. Und doch funkelt etwas Hoffnung in Gipis melancholischer Arbeit: Zwei Panels aus «Besondere Momente mit falschem Applaus». Avant-Verlag
Doppelseite (2/2) aus dem Comic «Besondere Momente mit falschem Applaus» von Gipi
Avant-Verlag

Das zweite Heft, «Hanno ritrovato la macchina» (Sie haben das Auto wiedergefunden, 2006) umfasst ebenfalls eine Autofahrt: wie zwei Männer erst einen dritten aus dem Bett zerren und ihn vor seiner Haustür erschiessen, einer alten Geschichte wegen, und sich anschliessend im Auto selber in die Haare geraten. In den Sechzigern hätten sie in seinem Heimatdorf begonnen, ein Spital zu bauen, meint der eine einmal zum anderen; jetzt, über vierzig Jahre später, seien die Arbeiten immer noch kaum vorangekommen. Er habe keine Angst vor der Hölle, es gebe sie schliesslich erst seit 2000 Jahren: Keine Chance, dass die schon fertig gebaut ist.

Man hat beinah den Eindruck, zwei Kurzfilme gesehen zu haben, so dicht und dynamisch zeichnet Gipi diese beiden «Küsse aus der Provinz», man glaubt, die Lastwagen vorbeidonnern zu hören, den Regen und das Meer rauschen. Und wie der Tag langsam hell wird und die Beklemmung bleibt. Eine Beklemmung, die sich stärker noch in «Nachtaufnahmen» (2005) wiederfindet, Gipis erstem Geschichtenband, den er nach vielen Veröffentlichungen in italienischen Comicmagazinen herausgegeben hat. Hier arbeitete er noch nicht mit Aquarell, sondern mit Öl. Die Kurzgeschichten in dunklen Blautönen wirken dadurch noch düsterer als seine späteren Werke.

Ein leuchtendes Kind

Zu düster? Zum Glück ist Gipi nicht nur ein begnadeter Zeichner, sondern auch ein guter Texter: Er schreibt schnelle Dialoge, hat aber auch ein Gespür für unterhaltsame Begleittexte, die ihm kaum je zu lang geraten. Es sind diese so frischen Unterhaltungen, der trockene Witz, der oft in ihnen steckt, die der bodenlosen Traurigkeit etwas entgegenhalten können. Häufig setzt Gipi Kinderfiguren ein, um seinen Geschichten etwas Leichtigkeit zu geben. Den Neffen in «Gli innocenti» etwa, der so unverschämt fragt, unbedingt immer mehr wissen will – und bitte noch ein Stück Schokolade.

Oder das Kind in «Besondere Momente»: Landi taumelt von beinah versäumten Auftritten in die Klinik zu seiner Mutter und dann wieder in ein nahe gelegenes Bed and Breakfast, setzt sich im Restaurant zu komplett Fremden an den Tisch und versucht doch bloss, sich von seiner Überforderung abzulenken. Und da erscheint ihm auf einmal dieses kleine freche Leuchtwesen, das ihn in seinem Selbstmitleid herausfordert. Eigentlich ist auch «Besondere Momente» wieder so ein verrutschter Bubentraum: sein Geld damit verdienen, indem man auf der Bühne Witze über Squirting erzählt. Aber ist das noch lustig, wenn man eigentlich die ganze Zeit an die Mutter denken muss, die da liegt und mit der man sich nie zu unterhalten gelernt hat?

Wichtiger noch als die Stationen Bühne und Bed and Breakfast sind für Landi aber eigentlich jene, in die er ganz allein abtaucht: Erinnerungen an einen Krieg, die nicht die seinen sind, an seine Kindheit – und ein fremder Planet, auf dem vier Kosmonauten umherirren. Dort gibt es das «Schwarz», den «Sumpf» und eigentlich gar kein Expeditionsziel. Landis Inneres ist nur in schwarzer Tusche gezeichnet, und die Verwirrung darin beginnt sich erst aufzulösen, als das leuchtende Kind auftaucht und Landi für seine vielen komplizierten und traurigen Gedanken auslacht. Ob er beim Aves angestellt sei, beim Amt für Verkomplizierung einfacher Sachverhalte, fragt es und lacht sich kaputt, bis Landi irgendwann aufhören muss, beleidigt zu sein.

«Besondere Momente mit falschem Applaus» ist ein melancholisches Buch, wie es Gipis gesamtes Werk ist. Aus den abgehängten Buben mit ihren Träumen werden ratlose Erwachsene – aber hier lässt Gipi doch etwas Hoffnung funkeln. Stärker jedenfalls als in «Eine Geschichte», auf Italienisch schon 2013 erschienen, sechs Jahre vor «Besondere Momente». Der Avant-Verlag hat 2022 nun beide in der deutschen Übersetzung publiziert. «Eine Geschichte» handelt ebenfalls von Silvano Landi, der hier in einem noch desolateren Zustand ist: in einer psychiatrischen Klinik, keine Chance auf Entlassung, im Kopf lauter wilde Gedanken. Hier ist es der Krieg, der die Übermacht hat, gespiesen vom Kriegstagebuch des Urgrossvaters, in das Landi ständig absinkt. Und was hat es mit dieser Tankstelle auf sich, die immer wieder in anderen Farben auftaucht? «Eine Geschichte» gibt wenig Aufschluss, die schimmernden Aquarelle wirken wie ein Fiebertraum, in den man gemeinsam mit dem Hauptcharakter hineingeraten ist. Da stimmt es einen schon froh, dass derselbe Landi in «Besondere Momente» immerhin ein bisschen Boden unter die Füsse bekommen hat.

Das Wirbeln der Erinnerungen

Der Krieg und die Erinnerung daran nehmen in den Geschichten viel Platz ein. Mit Jahrgang 1963 ist Gian Alfonso Pacinotti in die Nachkriegszeit Italiens hineingeboren, Kind einer Elterngeneration, die vom Zweiten Weltkrieg geprägt war. Im autobiografischen «S.», das nach dem Tod seines Vaters entstand, befasst er sich mit dessen Geschichten vom Krieg, aber auch jenen vom Meer, mit all den Erinnerungen, die der Familie eingeschrieben waren und sind und die mit der Wahrheit nicht immer gleich viel zu tun haben. Wie das alles miteinander verschwimmt – vielleicht gibt es keine bessere Technik als das Aquarellieren, um dieses Wirbeln der Erinnerungen festzuhalten.

Schon auffällig, wie wenige Frauen in diesem Werk vorkommen. Oft sind sie eine moralische Instanz ohne Gesicht, die Schwester, die Mutter, die Tochter oder die Ehefrau, die am Telefon zweifellos die richtigen Dinge sagen, aber doch nicht zu den Protagonisten durchdringen. Bezeichnend auch, wie «S.», die Auseinandersetzung mit dem Tod des Vaters, voll und ganz auf dessen Erinnerungen und Erzählungen aufbaut; während «Besondere Momente mit falschem Applaus», die Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter, von deren Verschwinden handelt. Landi findet etwa auch erst spät heraus, dass sie ihn durchaus noch verstehen und auf seine Aussagen antworten kann, jedoch nicht mehr gut hört – er hat einfach immer zu leise gesprochen.

Man mag es schade finden, dass hier die Erfahrungen von Frauen so wenig beachtet sind. Wohl spiegelt es aber auch eine italienische Realität. Umso spannender, ist Gipi selbst nun Förderer von Zuzu, einer der aufregendsten Comicautorinnen Italiens. Eine eigenständige Stimme – und doch scheint sie gewissermassen Gipis Projekt aus einer weiblichen Perspektive weiterzuführen. In ihren Büchern erzählt auch sie von den Rändern Italiens, wo Langeweile und Armut gross sind. Und die Träume.

Ausgewählte Werke von Gipi:

«Eine Geschichte». Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant Verlag. Berlin 2022. 128 Seiten. 40 Franken.

«Besondere Momente mit falschem Applaus». Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant Verlag. Berlin 2022. 176 Seiten. 45 Franken.

«5 Songs». Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto. Avant Verlag. 2007. 128 Seiten. 28 Franken.

«S.» Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto. Reprodukt Verlag. Berlin 2012. 112 Seiten. 28 Franken.