Die Zersetzung Schlaflose Kinder und ein zerfledderter Wolfshund: Gianna Molinaris Zweitling «Hinter der Hecke die Welt» und «Grelle Tage», ein Theaterstück von Selma Kay Matter, beleuchten die Auswirkungen der globalen Erhitzung.

Die Spezialisten kommen von ausserhalb, um die Kinder zu vermessen. Doch die sind auch dieses Mal keinen Millimeter in die Höhe geschossen: Lobo ist «einen Meter fünfunddreissig gross», Pina «einen Meter achtunddreissig Komma sieben». Und seit zwei Jahren wachsen die beiden gar nicht mehr. Warum das so ist, wissen auch die Vermessungsspezialisten nicht. Vielleicht liegt es am Klima im Allgemeinen, vielleicht an der Lage des Dorfes oder auch einfach an zu wenig Schlaf, wird vermutet.
Schrumpfen verhindern
«Hinter der Hecke die Welt» von Gianna Molinari spielt in einem namenlosen Ort, in dem ständig ein starker Wind geht und die Dorfjüngsten unausweichlich zu Hoffnungsträger:innen werden – weil alle anderen potenziellen Hoffnungsträger:innen längst ins Umland entwichen sind. Mit ihrem Wegzug begann auch das Schrumpfen der Infrastruktur. Um diesem entgegenzuwirken, setzt eine winzige Gemeinschaft vor allem auf eine beständig weiterwachsende Hecke, die am Dorfrand vor sich hin wuchert. Sie zieht fotografierende Tourist:innen an, nicht viele, aber immerhin ein paar. Klar ist: «Sollte das Schrumpfen auf die Hecke übergreifen, dann ist endgültig Schluss.»
Wir verfolgen den repetitiven, etwas trostlosen Alltag der Dorfbewohner:innen. «Im Allgemeinen hatten sie Angst vor dem Verschwinden», schreibt Molinari. Neben Pina und Lobo gibt es im Buch lediglich vier Erwachsene. Mehr Figuren braucht die Autorin auch nicht, um in verknappten Sätzen eine melancholische Atmosphäre zu schaffen: Da ist der entrückte Architekt Emmerich, der in seinem Kopf zwar grosse Pläne fürs Dorf hat, diese aber nie jemandem zeigt. Frau Werk hingegen betreibt mit hilflosem Eifer eine Gärtnerei ohne Aufträge. Die Dorfälteste Loma entstaubt im spärlich besuchten Museum des Ortes eine ausgestopfte Spitzmaus. Und Pinas Vater Karsten wechselt regelmässig die unbenutzten Bettbezüge in der dorfeinzigen Pension «Zum Goldenen Schnitt».

Hinter der Hecke der Nordpol
Zu dieser beschaulichen Miniaturwelt gesellen sich die Weiten der Arktis, in der Pinas Mutter Dora auf einem Forschungsschiff Sedimentproben vom Meeresgrund birgt. Dora hält fest, wie Gletscher schmelzen und Grenzen sich verschieben. «Eis schmilzt, und unpassierbare Stellen werden schiffbar, Land geht unter, und Land taucht auf, Menschen verdrängen Menschen, Gebiete werden mit neuem Blick geprüft, und neue Gebietsansprüche erwachen wie die tiefgefrorenen Erdhörnchen im Frühjahr, mit noch halbsteifen Gliedern, aber einem gewaltigen Hunger», heisst es an einer Stelle.
Für ihr fulminantes Debüt «Hier ist noch alles möglich» (2018) wurde die Zürcher Autorin Gianna Molinari mehrfach ausgezeichnet. Ihr skurriler Erstling erzählte von einer – fast – leer stehenden Verpackungsfabrik irgendwo in der Schweizer Agglomeration. Und einer jungen Frau, die darin als Nachtwächterin einen von ihrem Chef vermuteten Wolf einfangen soll. Während wir in «Hier ist noch alles möglich» auf das Auftauchen dieses Wolfes warteten, befürchten wir nun auch in «Hinter der Hecke die Welt», dass etwas Unheilvolles auf uns zukommt. Tatsächlich klafft in der Hecke eines Morgens ein mysteriöses Loch. Als dann noch Schädlinge und gar ein Feuer «einen beachtlichen Teil der Hecke» verschlingen, wird das Dorf unruhig. Und eines Nachts verschwindet eines der zwei Kinder.
Molinari gelingt mit «Hinter der Hecke die Welt» ein Nachfolgeroman, der seltsam anziehend ist, genauso wie ihr Debüt. Dazu trägt die zwar spürbar konstruierte, aber geglückte Vermengung der zwei Ebenen bei: Molinari lässt die märchenhafte Geschichte des Dorfes auf wissenschaftliche Aufzeichnungen und weitläufige Beschreibungen treffen, die Dora in der Arktis zusammenträgt. Während die Arktisepisoden beinahe dokumentarisch daherkommen – die Autorin hat für das Buch auf einem Forschungsschiff in Grönland recherchiert –, muten die Dorfepisoden surrealer an. Da rauscht schon mal eine ominöse Frau in schimmerndem Vogelkostüm vorbei. Molinari ergänzt das Buch mit einer weiteren visuellen Ebene: Feine Schwarzweissillustrationen, etwa von Polarfüchsen, ziehen sich durch das Buch, an seinem Ende gibt es Aufzeichnungen von brütenden Vögeln aus der Perspektive einer Webcam zu sehen.
Morbide Matterhorn-Story
Ungewöhnlich treten auch Selma Kay Matters «Grelle Tage» in Erscheinung. Autor:in und Theatermacher:in Matter schreibt Essays, Prosa und Theaterstücke, «Grelle Tage» wurde am Schauspielhaus Wien uraufgeführt. Letztes Jahr erschien das Stück in Buchform beim Suhrkamp-Theater-Verlag. Bis zu drei Handlungsstränge, die parallel zueinander stattfinden, verfolgen die Leser:innen. «Die Bühne ist alle Orte und vor allem ist die Bühne der Boden, der warm wird und weich wird und nachgibt und aufbricht und wankt. Keine*r hat einen festen Stand», lautet die Regieanweisung zu Beginn.
Damit klärt Matter das Setting der Geschichte, die im Vergleich zu Molinaris Climate Fiction, in der das Bedrohliche im Stillen lauert, von Anfang an knacksend, polternd und mit Getöse daherkommt: In «Grelle Tage» bewegen sich Böden und Berge, dem Matterhorn fehlt das Horn, und das verweste Fleisch eines zerfledderten Wolfshunds, der nach 13 000 Jahren plötzlich einem ausgetrockneten Brandenburger See entsteigt, stinkt gewaltig. Am Ufer dieses Sees, der keiner mehr ist, sitzt Jo, eine dreizehnjährige nonbinäre Person, die sich Zahnstocher zwischen die Augenlider klemmt, um nicht einzuschlafen. Zu gross die Angst, dass die Welt vor den eigenen Augen verschwinden könnte: «Eine Sekunde hab ich nicht hingesehen und der See hat beschlossen, zu gehen. Er hat sich einfach über Nacht davongemacht.» Erst ist Jo angewidert vom Wolfshund, überzeugt, krank zu werden, wenn er zu nahe kommt.
Nach und nach formiert sich in Matters Text aber trotz anfänglicher Abneigung ein ungleiches Duo, das sich alsbald für einen irrwitzigen Roadtrip in Bewegung setzt. Denn der Hund will sich nicht nur seinem Tod widersetzen – «Sie sagen: Das Eis ist ewig, der Tod ist es auch! Aber das ist nicht mehr wahr. Das Eis schmilzt, und der Tod, na ja» –, er hat auch eine klare Mission: Der gigantische Krater, der sich nach dem Matterhorn-Sturz im Berg aufgetan hatte, soll mit Kies gefüllt werden.
Und wie das so ist, mit übermüdeten dreizehnjährigen Autofahrer:innen wird es rasant. Es kommt zu einigen Zusammenstössen und Vollbremsungen in «Grelle Tage». Im Supermarkt stiehlt das Duo einen Einkaufswagen mit Kieselsteinen und klaut einen Mini auf dem Parkplatz. Man trifft auf illegale Mammutjäger, die sich damit brüsten, «Fairtrade»-Elfenbein zu «verticken»: Für dessen Entnahme bei freigelegten Mammutkadavern musste ja kein Tier erlegt werden. Und als wäre das alles nicht schon Aufregung genug, löst sich der zerfledderte Wolfshund immer mehr auf, verfault, zerbröckelt, bricht auseinander. Ihm gleich tun es nach und nach die Sätze und Dialoge. Das liest sich so: «Ich sehe nichts mehr / Wiesen / Nebelwälder».
Das mit einem düsteren Humor durchzogene Stück entwickelt sich zu einem köstlichen Fiebertraum, wäre da nur nicht der Beigeschmack des Realen: Matter zeigt sie mit aller Deutlichkeit auf, die kausalen Zusammenhänge des Klimawandels. Das Buch ist nicht nur ein kurzweiliges Leseerlebnis, QR-Codes verlinken im Text auch Youtube-Videos, die zusätzlich zu einer Fotografiestrecke in der Mitte für eine entsprechende Visualisierung, vielmehr aber für den maroden Soundtrack des Roadtrips sorgen: Da blubbert etwa Wasser, in dem haufenweise tote Fische liegen, vor sich hin – ein rätselhaftes Fischsterben, aufgezeichnet auf der Insel Rügen. Der Geruch dazu setzt sich automatisch in der Nase fest.
Matter und Molinari schaffen mit «Grelle Tage» und «Hinter der Hecke die Welt» zwei schillernde Dystopien, die beklemmen, weil sie der Gegenwart so nahekommen. Molinari nährt unser Unbehagen subversiv mit naturwissenschaftlichen Fakten, diffusen Ängsten oder symbolträchtigen Insektenplagen – und Matter beschreibt gnadenlos ein morsches Jetzt, das auseinanderbricht, für das jede Rettung fast schon zu spät scheint. Das ewige Eis schmilzt beiderorts.
Gianna Molinari: «Hinter der Hecke die Welt». Aufbau Verlag. Berlin 2023. 208 Seiten. 34 Franken.
Selma Kay Matter: «Grelle Tage». Suhrkamp Verlag. Berlin 2024. 118 Seiten. 27 Franken.
Gianna Molinari liest in Solothurn am Freitag, 10. Mai 2024, um 11.30, 16 und 20.30 Uhr; am Samstag, 11. Mai 2024, um 16.30 Uhr.
Gespräch und Lesung mit Selma Kay Matter finden digital statt.