Ein Traum der Welt: Der lange Atem

Nr. 2 –

Annette Hug liest Gedichte aus dem persischen Europa

Eingedeckt mit Appellen, nicht müde zu werden und nicht wegzuschauen und keinen Krieg zu vergessen, bin ich manchmal unsicher, was mir dieses Wesen soll, das «der Westen» genannt wird oder «die Weltöffentlichkeit». Zur Öffentlichkeit gehört man wohl, wenn man einen Aufruf unterschreibt, spendet, an einer Demo teilnimmt, philippinische Literatur übersetzt, wählen geht, Kolumnen schreibt. Aber wie steckt man in diesem «Westen», diesem schwer zu durchschauenden Potpourri aus Staaten und Firmen, aus Überheblichkeit, Menschenrechten, Mozart, Demokratie und Profit um jeden Preis? Zum Glück bildet sich seit einigen Jahren wieder eine andere Weltöffentlichkeit heraus: weltweite Verbindungen zwischen feministischen Bewegungen, die je an ihrem Ort Entscheidungen beeinflussen. Was auch heisst: ein weltweites Entsetzen über jeden Mord im Iran.

Dass Solmaz Khorsand in ihren «Notizen einer Revolution» in der letzten WOZ schreibt, iranische Prominente im Exil formierten sich gerade zu einer «nie da gewesenen Koalition», lässt das Herz höherschlagen. Und jede Hinrichtung droht den Atem abzudrehen. Nicht müde werden, schreibt Solmaz Khorsand. Nicht in eine «Messiaslogik» verfallen, die Aufmerksamkeit durch Märtyrertode sucht.

Gedichte sind gesungener Atem, auf Papier festgehalten. Seit langem schreiben Dichter:innen aus dem Iran und Afghanistan in Europa. Daniela Danz und Ali Abdollahi machen mit einer zweisprachigen Sammlung diesen Kontinent erfahrbar: einen «verlassenen Hafen» mit «versandeten Häusern, versandeten Palmen, versandeten Männern und Frauen» (Shabnam Azar), dieses «Irgendwo des Irgendwann» (Esmail Kho’i), der Ort, wo Robinson Crusoe keine Insel findet, «weder ein Boot noch ein Meer» (Zia Ghassemi). Aber auch einen Kontinent der Exilverlage und der Liebesgedichte. Liest man die biografischen Angaben im Band «Kontinentaldrift. Das persische Europa», eröffnet sich eine unheimliche Kontinuität von Revolten und Flucht: Esmail Kho’i, 1938 geboren in Maschhad, als Professor in den 1970er Jahren entlassen, lebt von 1980 bis 1983 im Untergrund, stirbt 2021 in London. Die meisten der Autor:innen dieses Buches kommen zwischen 1965 und 1980 zur Welt, verlassen den Iran nach Protesten im neuen Jahrhundert. Fatemeh Ekhtesari, geboren 1986 in Kaschmar, wird 2013 bei ihrer Rückkehr vom Poesiefestival in Göteborg inhaftiert. Zu 99 Peitschenhieben und elfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, kann sie 2016 fliehen. Sie lebt in Norwegen und gehört zur literarischen Bewegung des postmodernen Ghasel, einer arabischen Gedichtform.

«du wirst frei, er wird frei, wir werden / verloren gehen in der Konjugation der Zukunft», schreibt Azam Bahrami, die heute in Turin lebt. Im Gedicht «Vermischte Konjugationen» taucht das Wort «wir» ab, um dann doch durch die Zeilen zu geistern. Die deutsche Übersetzung von Kurt Scharf spielt mit den Bezeichnungen «Zeitwort» und «Fürwort»; wer sich da alles «beugt» in den Konjugationen der Verben, ist offen. Der Genuss dieser Übersetzung weckt den Wunsch, das Original zu verstehen und zu wissen, wie sich persische Verben wandeln. Und sie hellt den Kontinent auf, obwohl auch in diesem Text ein Galgen steht. Das leise Geistern eines «wir», das stärker werden könnte und ausgreifend, hilft, wacher und nicht müde zu werden.

Annette Hug, Autorin, ist begeistert von der Reihe «Kontinentaldrift» des Verlags Das Wunderhorn, insbesondere vom Band «Das persische Europa», herausgegeben von Daniela Danz und Ali Abdollahi. Eben erschienen ist «Das arabische Europa».

Da Michelle Steinbeck leider derzeit erkrankt ist, schreibt diese Woche Annette Hug.