Notizen einer Revolution (7): Sie haben uns nicht gebrochen
Solmaz Khorsand über den ansteckenden Mut der Protestierenden.
Es gibt unter den Protestierenden im Iran eine unausgesprochene Verpflichtung. Sie lautet: einander Mut machen. Auf Farsi heisst das «Ruhiy-e dadan». Wörtlich lässt es sich übersetzen mit «Leben oder Geist geben». Und irgendwie hat Ruhiy-e dadan etwas Spirituelles – als hätte tatsächlich ein Geist von den Menschen Besitz ergriffen. Als könnten sie gar nicht anders, als einander zu ermutigen.
Da wären einmal die Gefangenen, die bei Telefonaten anderer Häftlinge im Hintergrund im Chor Protestlieder singen – als wären sie verpflichtet, von drinnen jenen draussen Hoffnung zu geben. Oder die inhaftierte Anwältin Nasrin Sotudeh, die während des Hafturlaubs CNN ein Interview gibt, in dem sie sagt, dass sie nicht anders könne, als weiterzumachen – trotz der Angst um ihre Kinder. Oder die kürzlich aus dem Evin-Gefängnis freigelassenen Frauen Saba Kordafschari, Fariba Asadi, Alieh Motalebzadeh, Parastoo Moini, Zahra Safaei, Gelareh Abbasi und Schohreh Hosseini, die just nach ihrer Freilassung mit Blumen im Arm und offenem Haar auf der Strasse «Tod der Diktatur» und «Frau, Leben, Freiheit» brüllen.
Da wäre auch eine lächelnde Armita Abbasi: jene Zwanzigjährige mit den bunten Haaren, die gerne Tiktok-Videos mit ihren Katzen aufnahm und später gegen das Regime auf Instagram postete. Dafür wurde sie als «Rädelsführerin» verhaftet, verhört und vergewaltigt. So schlimm, dass die behandelnden Ärzte ihr Schweigen brachen und anonym von der zitternden Frau mit dem rasierten Kopf berichteten. Die Öffentlichkeit fürchtete, sie nie wieder lebend zu sehen. Doch Abbasi kam frei. Ihre Finger am Tag der Freilassung zum Victoryzeichen in die Kameras erhoben, postete sie nur einen Tag später wieder auf Instagram. Fast so, als wäre nichts passiert.
Es sind allesamt Zeugnisse von Personen, die ihren Mitmenschen signalisieren sollen: Sie haben uns nicht gebrochen! Unser Widerstandsgeist lebt, wir machen weiter, ihr doch auch? Es ist ein Mut, der einem den Atem stocken lässt. Er demonstriert mitunter die Angst, dass, wenn sie ihn verlieren, die Bewegung zum Stillstand kommt und all die Opfer umsonst waren. Sie können daher nicht anders, als ihn aufrechtzuerhalten. Daher wird jede Geste dokumentiert und amplifiziert.
Der Mut soll anstecken. Und das tut er auch. Im Ausland, wenn sich acht prominente Iraner:innen – trotz aller Differenzen – zusammenschliessen und verkünden, bis Ende Februar eine gemeinsame Charta vorzustellen. Und im Inland, wenn sich selbst jene zu Wort melden, die sich einmal vollends mit der Islamischen Republik identifizierten. Wie Mir Hossein Mussawi, der ehemalige Ministerpräsident aus den achtziger Jahren, der bei der Wahl 2009 als Anführer der Grünen Bewegung gegen den amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad antrat und scheiterte. Seit zwölf Jahren lebt Mussawi mit seiner Frau Zahra Rahnavard unter Hausarrest. Ein einstiger Regimegünstling und achtzigjähriger «Reformer», dessen politischem Lager viele misstrauen, weil dieses das System nur reformieren, niemals stürzen wollte.
Mussawi liess aufhorchen, als er aus dem Hausarrest nicht nur ein Referendum, sondern auch eine Verfassungsänderung forderte. Und auch wenn die junge Generation mit Leuten wie ihm nichts anfangen kann, darf nicht verkannt werden, dass jene, die an die Islamische Republik geglaubt haben und es immer noch tun, gerade einen wie ihn respektieren. Sich gar ermutigen lassen, eines Tages ihre Loyalität zu den Machthabern zu hinterfragen.
Die Machthaber machen paradoxerweise ebenso Mut, selbst Revolutionsführer Ali Chamenei. Zuletzt bei einer Rede vor Offizieren der Luftwaffe, als er zur «nationalen Einheit» aufrief und bat, dass aus «unvermeidlichen Unterschieden» keine «Gräben» entstehen sollten. Für Kommentator:innen weltweit ein klares Indiz dafür, dass es die Gräben im Regime bereits gibt und Chamenei sie mit seiner Rede eingestanden hat. Das mag Wunschdenken sein. Aber es hält den Geist der Hoffnung aufrecht und vertreibt zunehmend denjenigen aus den Anfangstagen der Islamischen Republik. Am 11. Februar hat sie ihren 44. Jahrestag gefeiert. Zu hoffen, dass es ihr letzter war, ist das Mindeste, zu dem wir, die wir nur an der Seitenlinie stehen, uns verpflichten können.
Solmaz Khorsand (37) lebt in Wien und ist Journalistin (unter anderem für die «Republik»), Buchautorin und Podcasterin. 2021 erschien ihr Buch «Pathos» bei Kremayr & Scheriau.