Schach: Die Schachkönigin aus Russland wechselt den Verband

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Weltmeisterin Alexandra Kosteniuk wird ab 2024 unter Schweizer Flagge antreten. Manche in Russland qualifizieren die Entscheidung als Flucht.


Der Weg zur Schachkönigin fing für Alexandra Kosteniuk bereits im Alter von fünf Jahren an. Schon damals nahm sie die Schachfiguren nicht als Spielzeug wahr, sondern als Teil eines bedeutsamen Spiels: «Als ich in der Schule war, verbrachte ich fast meine ganze Freizeit mit Schach», erzählt sie. «Das sind etwa vier oder fünf Stunden pro Tag. Trotzdem ist mir meine Kindheit nicht mit anstrengenden Trainingseinheiten in Erinnerung geblieben.»

Ihr Vater spielte eine wichtige Rolle als Mentor und Trainer. «Er hatte Schwierigkeiten, Lehrbücher zu finden. Damals gab es noch keinen Zugang zu Computern, Lehrbücher waren ebenfalls schwer zu bekommen, und es gab überhaupt keine kindergerechte Schachliteratur», sagt Kosteniuk. Für junge Schachspieler:innen sei es heute viel einfacher: «Sie können den ganzen Tag damit verbringen, Schachpartien zu analysieren oder sich Lehrvideos anzusehen.»

Grossmeister bei den Männern

Die harte Arbeit trug Früchte: Mit vierzehn Jahren wurde Alexandra Kosteniuk inter­­­­nationale Grossmeisterin. Seit 2002 spielt sie für die russische Nationalmannschaft bei internationalen Teamwettbewerben. Und im November 2004 erhielt sie als erst zehnte Frau den Titel eines internationalen Grossmeisters bei Männern – den höchsten Rang, den Mann oder Frau im Schach erreichen kann.

«Obwohl Frauenschach relativ jung ist, haben wir die Möglichkeit, auch mit Männern zu spielen», sagt sie. Für Frauen sei es jedoch schwieriger, über längere Zeit hinweg Spitzenresultate zu zeigen: «Bei einem Schachturnier spielen Ausdauer, die Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum ein hohes Mass an Konzentration aufrechtzuerhalten, sowie Stressresistenz eine wichtige Rolle. Der Puls mancher Grossmeister liegt bei bis zu 180 Schlägen pro Minute, und während eines Spiels werden so viele Kalorien verbrannt wie beim Laufen oder Schwimmen.»

Neben ihren sportlichen Tätigkeiten ist die 38-Jährige auch im Bildungsbereich aktiv. Seit 2007 führt sie Schachturniere für Kinder durch und organisiert auch Kurse für Kinder ab drei Jahren, wobei der Schachunterricht in einem so jungen Alter in erster Linie auf die kognitive Entwicklung des Kindes abzielt. Über ihre Erfolge hat Kosteniuk auch Bücher geschrieben, darunter «Diary of a Chess Queen», sowie mehrere Lehrbücher.

Durch ihre erste Ehe mit einem hiesigen Geschäftsmann erlangte Kosteniuk 2009 die Schweizer Staatsbürgerschaft. Seither ist sie auch berechtigt, an den Schweizer Meisterschaften teilzunehmen. Im Jahr 2013 gewann sie als erste Frau die Schweizer Herrenmeisterschaft, in den letzten Jahren spielte sie in der Schweizer Mannschaftsmeisterschaft für die Schachgesellschaft Zürich, den ältesten noch existierenden Schachverein der Welt, in der Nationalliga A.

Den russischen Schachverband vertrat Kosteniuk letztmals Ende Dezember 2021. Bald darauf marschierten russische Truppen in der Ukraine ein. Am 24. Februar 2022 postete Kosteniuk auf Instagram ein schwarzes Quadrat mit der Bildunterschrift «Schmerz, Angst und Ohnmacht gegenüber dem, was um dich herum geschieht».

Ende Dezember 2022 gab der Schweizerische Schachbund (SSB) bekannt, dass Alexandra Kosteniuk ab Januar 2024 für die Schweiz antreten wird. Sollte sie schon vorher für die Schweiz spielen, müsste der SSB eine Ablösesumme von 10 000 Dollar an den russischen Schachverband zahlen, hiess es in einer Erklärung. Nach einer Wartezeit von zwei Jahren ist der Wechsel des Verbands gebührenfrei. Im laufenden Jahr kann Kosteniuk bei internationalen Wettbewerben unter der neutralen Flagge des Weltschachverbands antreten.

In Russland fielen die Reaktionen auf die Nachricht von Kosteniuks Verbandswechsel geteilt aus. Ihre Fans unterstützten die Entscheidung. Dmitri Swischtschew, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Körperkultur und Sport, äusserte sich zurückhaltend: «Daran ist nichts auszusetzen. Wenn sie will, soll sie austreten.» Die Abgeordnete Swetlana Schurowa dagegen, eine frühere Eisschnellläuferin, bezeichnete den Verbandswechsel als Flucht.

Offener Brief gegen den Krieg

Kosteniuk widerspricht dem. Die Entscheidung sei ihr nicht leichtgefallen. Sie reagiere damit auf einen starken Schmerz in ihrem Herzen, sagt sie. Im fünfzigminütigen Gespräch mit der WOZ wollte sie zwar nicht über den Krieg sprechen, doch unmittelbar nach der russischen Invasion hatte Kosteniuk zusammen mit 43 anderen Eliteschachspieler:innen einen offenen Brief unterzeichnet, in dem der russische Präsident Wladimir Putin aufgefordert wurde, den Krieg zu beenden. Auch auf Instagram hat sie schon mehrmals öffentlich protestiert. Seit dem 24. Februar 2022 empfinde sie jeden Tag fast körperliche Schmerzen, wenn sie die Nachrichten lese, wie sie sagt.* «Mein ganzes Leben und meine Ideale wurden zerstört. Ich möchte jedoch die Beziehungen zu Russland nicht abbrechen. Für mich bedeutet Russland Menschen, Sprache, meine Wurzeln, Kultur, und es ist unmöglich, all das aus meinem Leben zu streichen. Ich hoffe, dass sich die Situation eines Tages wieder normalisieren wird.»

Alexandra Kosteniuk lebt heute mit ihrer Tochter und ihrem zweiten Ehemann, dem russischen Schachspieler Pawel Tregubow, in Frankreich. Derzeit bereitet sie sich auf den Schachweltcup im Juli vor. Manchmal, wenn sie Zeit hat, spielt sie mit ihrem Ehemann Schach. Diese Partien enden in der Regel mit einem Remis.

* Korrigenda vom 12. Januar 2023: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion hiess es an dieser Stelle: «Über den Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine spricht Kosteniuk nur vorsichtig. Sie protestiert nicht offen, das Wort ‹Krieg› nimmt sie während des fünfzigminütigen Gesprächs mit der WOZ nicht in den Mund.» Auf Wunsch von Alexandra Kosteniuk haben wir die Passage korrigiert.