Sachbuch: Das Stimmvolk gegen das System
1869 setzte eine Bewegung im Kanton Zürich die direkteste Demokratie der Welt durch. Andreas Gross dokumentiert diesen Kampf in einem neuen Buch.
Es war ein Schock für die Stadtzürcher Elite: Ende 1867 verlangten vierzig Prozent der damals 65 000 Stimmberechtigten eine Totalrevision der Zürcher Kantonsverfassung. Das hatten nicht einmal die Initianten der Protestbewegung erwartet. Die Herrschaft des freisinnigen Besitzbürgertums und der Grossfinanz, das sprichwörtlich gewordene «System Escher», wankte. Nach einjähriger Arbeit durch einen demokratisch gewählten Verfassungsrat wurde am 18. April 1869 eine neue Zürcher Verfassung mit über sechzig Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen. Der Kanton Zürich bekam damit die weltweit am weitesten entwickelte direkte Demokratie, mit Gesetzesreferendum, Volksinitiative und Volkswahl der Regierung.
Bereits die Bundesverfassung von 1848 war fortschrittlich; sie verankerte die Gewaltentrennung, regelte das föderalistische Verhältnis zwischen Bund und Kantonen und garantierte zahlreiche Bürgerrechte. Die Verfassung basierte aber auf einem Repräsentativsystem mit konzentrierter Macht bei der Exekutivregierung und dem Bundesparlament mit seinen zwei Kammern. Weiter gehende Volksrechte wurden auf breiter Front erst in den 1860er Jahren erkämpft, befördert durch die Demokratische Bewegung in Zürich von 1867 bis 1869. Neben neuen Volksrechten enthielt die Zürcher Kantonsverfassung auch sozial- und wirtschaftspolitische Artikel: ein gerechteres Steuer- und Justizsystem, einen Ausbau der Volksschule, die Schaffung einer Kantonalbank und die Förderung von Genossenschaften.
Escher und seine Trabanten
Der frühere SP-Nationalrat Andreas Gross dokumentiert diesen Kampf im umfangreichen Buch «Landbote vs. NZZ» anhand der beiden damals führenden Zeitungen: des radikaldemokratischen «Landboten» aus Winterthur und der einst fortschrittlich freisinnigen, danach zum Organ des Besitzbürgertums gewordenen NZZ.
Dabei sind die Texte jeweils auf gegenüberliegenden Seiten angeordnet: Links liest man also die feurigen Aufrufe der Radikaldemokraten und rechts die Erwiderungen der Freisinnigen. Ergänzt werden die Zeitungsartikel durch zeitgenössische Reden und längere Texte sowie durch Porträts einzelner Protagonisten und Analysen von heutigen Historikern. Eine spannungsvolle, spannende Lektüre, die überraschende Blicke ins Heute erlaubt – und gelegentlich auch ein wenig ermüdend ist, wenn zum x-ten Mal die Argumente für oder gegen das herrschende repräsentative System oder für oder gegen die neuen Volksrechte ins Feld geführt werden.
Die Protestbewegung hatte sich angesichts einer wirtschaftlichen Stagnation angekündigt, 1867 verschärfte zudem eine Choleraepidemie soziale Gegensätze. Die stockende Nachfrage traf viele Landwirte und Handwerker; ein Protestpotenzial, das die Stadtzürcher Elite unterschätzte. Die Unzufriedenheit konzentrierte sich auf einen Mann und seine Trabanten: Alfred Escher, Industrieller, Financier, Eisenbahnbaron, der mächtigste Mann nicht nur im Zürcher Staat. Auch ganz handfeste Details erregten Zorn, etwa dass sich Eschers Kreditanstalt auf grosse Projekte konzentrierte und Gewerbetreibenden und Bauern kaum Kleinkredite gewährte. Oder die Salzsteuer, die vor allem die kleinen Leute belastete. Dazu musste, wer in die neue Bundesarmee eingezogen wurde, seine Ausrüstung selbst bezahlen.
Die herrschenden Freisinnigen ignorierten solche Sorgen und blickten eher verächtlich auf die Masse der Bevölkerung hinab. So konnten die Oppositionellen einen klaren Gegensatz konstruieren: das «Volk» gegen die Geldsäcke und deren «System». Das hatte einen populistischen Anklang. Politisch hiess die Parole: direkte oder «reine» Demokratie versus die erstarrte, missbrauchte Repräsentativdemokratie.
Die direkte Gegenüberstellung macht die jeweiligen publizistischen Techniken der beiden Zeitungen deutlich. Im Fall der NZZ: Die alten Zustände beschönigen. Gegenüber der Kritik abwiegeln. «Besonnenen Fortschritt» anstelle radikaler Hirngespinste anmahnen. Die Bewegung auf (einen einzigen) Drahtzieher reduzieren und sie des neuartigen Kommunismus verdächtigen. Mit einem finanziellen Kollaps drohen. Auf Zeit spielen.
Frauen waren nicht mitgemeint
Doch am 26. Januar 1868 stimmen 86 Prozent für eine Totalrevision, bei einer Stimmbeteiligung von neunzig Prozent. Jetzt muss die NZZ zähneknirschend den massenhaften Wunsch nach einer demokratischen Veränderung eingestehen. Während der engagiert und gehaltvoll geführten Diskussion um den Verfassungsentwurf wirkt die Zeitung, bei weiter bestehender Fundamentalopposition, konstruktiv in ihren Beiträgen. Als der Entwurf vorliegt, kehrt sie im Vorfeld der entscheidenden Abstimmung zur Demagogie zurück.
Auch die andere Seite argumentiert hart, wiewohl zuweilen kompromissbereit. Die Forderung nach der Abschaffung von Behörden und der Abwahl von Beamten wird bald preisgegeben. Gegenüber der scheinheiligen Favorisierung von basisdemokratischen Vollversammlungen betont man die Modernität der geheimen Urnenwahl, die durch die Entwicklung der Kommunikationsmittel möglich geworden sei. Während der Debatte rücken die Radikaldemokraten, wohl aus taktischen Gründen, die sozialen Fragen in den Hintergrund; diese werden dann von der Mehrheit im Verfassungsrat wieder verstärkt.
Der grösste Mangel der neuen Verfassung war der Ausschluss der Frauen. Die Radikaldemokraten traten an, das «Volk» in alle Rechte einzusetzen; entsprechend beginnt die Verfassung mit dem Satz «Die Staatsgewalt beruht auf der Gesamtheit des Volkes». Aber selbst in diesen Reihen wurde das Stimm- und Wahlrecht der Frauen selten erwähnt, geschweige denn seriös diskutiert. Die Macht verinnerlichter patriarchaler Denkstrukturen bleibt im Nachhinein kaum verständlich.
Räuberisch: Indirekte Steuern
So weit, so spannend. Ein paar einleitende Informationen hätten dem Buch allerdings nicht geschadet: Auflage, soziale Basis, wichtigste Beiträger von NZZ und «Landbote», dazu die Bedeutung anderer Publikationen. Von wem und von welcher Art das oft erwähnte «Pamphlet» war, das den medialen Startschuss zur Bewegung gab, erschliesst sich erst allmählich. Für den «Landboten» wird, sehr spät, immerhin der wichtigste Redaktor porträtiert; bei der NZZ muss man aus dem Anhang zusammenklauben, wer zu welchen Zeiten Chefredaktor war.
Die wichtigsten Volksrechte fanden 1874 Eingang in die neue Bundesverfassung. Historisch gesehen wirkte sich in den folgenden Jahrzehnten vor allem das Referendum eher bremsend aus. Auch Diskussionen um die Volkswahl des Bundesrats werden mittlerweile unter anderen Prämissen geführt. Anderes bleibt unabgegolten. Eine verstärkte progressive Einkommenssteuer anstelle indirekter Steuern begründeten die Radikaldemokraten damit, Letztere seien ein «Erbteil des Mittelalters, eines Systems der Ungerechtigkeit und des Raubes gegenüber den unbemittelten Klassen». Dagegen schlugen sie schon damals eine – auf Bundesebene bis heute nicht verwirklichte – Erbschaftssteuer vor. Und der Passus zur Förderung des Genossenschaftswesens wurde im Kanton Zürich auf die Förderung des «gemeinnützigen Wohnungsbaus» reduziert.
Andreas Gross: «Landbote vs. NZZ». Editions le Doubs. St-Ursanne 2022. 601 Seiten, mit illustrierten Porträts von Dino Rigoli. 40 Franken.