Literatur: Das Vermächtnis der Einsamen
Wie man als Leichenfundortreinigerin zu einem sozialeren Menschen wird: Davon erzählt die japanisch-österreichische Autorin Milena Michiko Flašar in ihrem neuen Roman «Oben Erde, unten Himmel».
Meist ist es der Geruch, der die Umgebung schlagartig daran erinnert, dass man den Nachbarn von nebenan, die Nachbarin vom siebten Stock schon länger nicht mehr gesehen hat. «Fundleichen» nennt man sie auf Deutsch, die Menschen, deren Ableben erst im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung bemerkt wird. Im Japanischen bezeichnet das Wort «kodokushi» dieses traurige Phänomen. Es ist aus den Schriftzeichen für «einsam», «allein» und «verlassen» sowie «Tod» zusammengesetzt. Ein paar Tausend Fälle gibt es jährlich in Japan.
Und genau in dieses unbequeme Sujet führt die japanisch-österreichische Autorin Milena Michiko Flašar in ihrem neuen Roman «Oben Erde, unten Himmel». Es ist ein harter Stoff, dem sich Flašar widmet. Sie tut es behutsam, auch humorvoll, und spart doch nicht mit drastischen Details, die auf den Magen gehen.
Daten bei Regen
Suzu Takada, 25 Jahre alt, ist vom Land in die Stadt gezogen, um die fürsorgliche Umklammerung ihrer Eltern loszuwerden. Das Studium hat sie nach einem Semester hingeschmissen. Sie lebt in einer kleinen Wohnung in einer nicht näher bezeichneten Stadt mit ihrem Hamster Punsuke, ist gerne allein, treibt sich manchmal, vor allem bei Regen, auf Datingplattformen herum. Dann und wann trifft sie kotaroo067, bis dieser sich nach drei Monaten nicht mehr meldet und sie mit grossen Selbstzweifeln zurücklässt. Freund:innen hat Suzu nicht. Sie jobbt als Kellnerin in einem typisch japanischen Famiresu, einem familien- und autofreundlichen Restaurant mit grossem Parkplatz. Eines Tages setzt sie ihr Arbeitgeber wegen «ihres mangelnden Liebreizes und fehlendem sozialem Plus» auf die Strasse. Sie bewirbt sich unter anderem als Fliessbandarbeiterin in einer Schuhfabrik, als Küchenhilfe bei einer Fastfoodkette und als Reinigungskraft für nicht näher definierte Aufräumarbeiten. Letzteres klappt auf Anhieb, obwohl schon das Vorstellungsgespräch eher skurril verläuft. Bald wird klar, weshalb die Bezahlung so gut ist.
Bei einem Whisky erklärt Firmenchef Sakai ihr und ihrem Mitbewerber und Namensvetter Takada die Firmenphilosophie: «Unsere Arbeit umfasst die Beseitigung von Verschmutzungen, Gerüchen und Schädlingen. Darüber hinaus umfasst sie den würdevollen Umgang mit den Hinterlassenschaften der Verstorbenen […]. Als Leichenfundortreiniger tragen wir Sorge dafür, dass aus Fundorten wieder Orte werden.» Anstand, Würde und Respekt verlangt Herr Sakai von seinem kleinen Team bei der Arbeit, dazu gehört auch ein Ritual: Man spricht ein Gebet für den Verstorbenen und entschuldigt sich für das Eindringen in die Wohnung, bevor man sie betritt.
Über Hinterlassenschaften derer, die den einsamen Tod gestorben sind, lernt die menschenscheue Suzu posthum die unterschiedlichsten Menschen kennen, entwickelt Interesse, ja sogar Zuneigung und Empathie. Parallel dazu wird die Eigenbrötlerin zunehmend fähig, auch zu den Lebenden soziale Beziehungen aufzubauen – ganz besonders zu ihrem Kollegen Takada.
Eine Million Hikikomori
Wieder hat die 1980 in der Provinzstadt St. Pölten geborene Milena Michiko Flašar einen ganz besonderen Ton getroffen, der berührt und bewegt. Und wie schon in ihren preisgekrönten Romanen «Ich nannte ihn Krawatte» und «Herr Kato spielt Familie» hat die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters Japan als Setting gewählt. Bereits früher hat sie Themen wie selbstgewählte Isolation, Rückzug, Obdachlosigkeit, Einsamkeit oder Aussenseitertum aufgegriffen. Mit «Oben Erde, unten Himmel» trifft sie erneut auf ein aktuelles japanisches Problem. Einer der Hintergründe für das Phänomen «kodokushi»: Die erste Generation der Hikikomori, jener Menschen also, die ihr Leben freiwillig in Isolation und Rückzug von der Gesellschaft verbringen, ist in die Jahre gekommen. Laut einem Bericht der «Japan Times» sind mittlerweile rund die Hälfte der 1,15 Millionen Hikikomori zwischen 40 und 64 Jahre alt. Wenn ihre Eltern, die meist ihre einzigen Bezugspersonen sind, sterben, lassen sie die Hikikomori gänzlich vereinsamt zurück.
Einfühlsam und liebevoll zeichnet Flašar in «Oben Erde, unten Himmel» die Figuren und ihre Beziehungen zueinander, mit grossem Gespür für die feinen Untertöne, die den menschlichen Umgang in Japan so besonders machen. Viele Sommer ihrer Kindheit hat die zweisprachige Autorin in Japan verbracht. Japanisch ist die Sprache ihrer Kindheit, die sie mit Wärme und Liebe assoziierte, wie sie einmal in einem Interview erzählt hat. Warm ist auch dieser Text, trotz der Schauer, die einem seine Thematik über den Rücken jagt.
Am Sonntag, 19. Februar 2023, um 11 Uhr liest die Autorin im Zentrum Paul Klee in Bern.
Milena Michiko Flašar: «Oben Erde, unten Himmel». Roman. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2023. 304 Seiten. 36 Franken.