Film: Gespenster seiner Seele
Ein Mann trifft seine jungen Eltern, die schon lange tot sind: Der neue Film des britischen Regisseurs Andrew Haigh schimmert in der Zone zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Grossartig und ergreifend.
Es klingt wie die Erfüllung einer lang gehegten Sehnsucht. Oder auch wie ein Albtraum. Adam (Andrew Scott) hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren, als er noch keine zwölf Jahre alt war. Nun will der vierzigjährige Drehbuchautor über sie schreiben und fährt zur Recherche in die Kleinstadt seiner Kindheit. Auf der Suche nach seinem damaligen Elternhaus sieht er auf einer Wiese in der Nähe einen jüngeren Mann (Jamie Bell), der ihn an seinen Vater erinnert. Als er diesem dann gegenübersteht, wird Adam von ihm als lang vermisster Sohn begrüsst, etwas steif, aber auch sehr herzlich. Der Vater lädt ihn ein, mit nach Hause zu kommen, die Mutter (Claire Foy) würde sich doch freuen, ihn zu sehen.
Und tatsächlich, bald sitzt er mit beiden in der Stube beim Tee und lässt es über sich ergehen, wie die stolzen Eltern über seinen Werdegang staunen: «Du bist Schriftsteller!» Und im Kino weiss man nicht sicher, ob hier ein Herzenswunsch dargestellt wird oder ein Horrorszenario.
Diese Ambivalenz ist wesentlich für Andrew Haighs «All of Us Strangers». Ohne sie wären die Szenen von der Wiederbegegnung mit den zu früh verstorbenen Eltern zu nah am Märchen. So aber, mit den Untertönen des Thrillers, die schon die ersten Szenen des Films begleiten, stehen auch die liebevollsten Momente im Zeichen einer existenziellen Unsicherheit. Wie tief geht die Liebe der Eltern? Werden sie ihren Sohn noch lieben, wenn sie ihn wirklich kennenlernen? Wenn sie erfahren, dass er schwul ist? Solche Fragen scheinen Adam schon sein Leben lang umzutreiben. Der irische Schauspieler Andrew Scott lässt hinter der Fassade seiner introvertierten Figur auf grossartige Weise einen Kosmos von widersprüchlichen Gefühlen aufscheinen.
Erst Sex, dann mehr
Zu Beginn sieht man ihn allein in seiner Wohnung in einem der oberen Stockwerke eines Londoner Hochhauses. Die Aussicht ist spektakulär; das Haus selbst hat etwas Gespenstisches, denn nur ganz wenige Wohnungen sind belegt. In einer davon wohnt Harry (Paul Mescal), der eines Abends betrunken bei Adam vor der Tür steht und lallend das Angebot macht, für alles zur Verfügung zu stehen. Adam lehnt ab, der eigenen Einsamkeit und sexuellen Bedürftigkeit zum Trotz. Später kommt es auch zwischen Adam und Harry zu einer Wiederbegegnung, und diesmal lässt sich Adam verführen. Zuerst zum Sex und dann zu mehr, zu gemeinsam verbrachten Abenden, zu intimen Geständnissen und zum Gespräch über die Eltern. Aber auch in diese Szenen zieht immer mehr die Unsicherheit darüber ein, ob es real ist, was hier erzählt wird, oder ob auch diese Liebesbeziehung nur in Adams Imagination stattfindet.
Das Fesselnde, Ergreifende an «All of Us Strangers» ist gerade, dass man sich nicht zwischen Wirklichkeit und Fantasie entscheiden muss. Der Film, nach einem Roman von Taichi Yamada, entwickelt seinen Sog daraus, dass er für Interpretationen in verschiedene Richtungen offenbleibt. Zugleich sind die Begegnungen zwischen Adam und seinen «Seelengespenstern» in einem nuancierten, psychologischen Realismus geschrieben, der Geisterfilmen sonst eher fremd ist.
Die fein ziselierte Figurenzeichnung verschaffte schon den früheren Filmen von Andrew Haigh einen gewissen Kultstatus. In «Weekend» (2011) erzählte er vom Kennenlernen zweier junger, schwuler Männer, in «45 Years» (2015) von der späten Entfremdung eines lang verheirateten Ehepaars. Und in der Serie «Looking» (2014) begleitete er einen schwulen Freundeskreis in San Francisco über einige Jahre, unspektakulär, aber fabelhaft authentisch. Mit «All of Us Strangers» bricht er aus den Konventionen des Realismus aus, greift Elemente von Thriller und Melodram auf – und findet wiederum zu einer Form von emotionaler Wahrhaftigkeit, die tief berührt.
So reich an Details
Die Aussprachen, die Adam zuerst mit der Mutter und dann mit dem Vater über seine Identität als schwuler Mann hat, sind Paradebeispiele dafür. Die Mutter ist sich kaum bewusst, wie sehr sie ihren Sohn mit ihren Allerweltssätzen verletzt: «Welche Eltern könnten das für ihre Kinder wollen?», oder: «Man sagt, es sei ein sehr einsames Leben!» Ein Abgrund von komplexen Mutter-Sohn-Gefühlen tut sich auf, den kein abschliessendes «I love you» je ganz überbrücken kann. Was es bei Haigh auch gar nicht muss: In einer späteren Szene erzählt Adam seiner Mama, dass er noch als Zwanzigjähriger von ihrem Weiterleben fantasiert habe, von gemeinsamen Ausflügen nach London, geprägt von heftigen Streiten miteinander. «Aber wir haben uns dann wieder versöhnt?», fragt die junge Mutter, von Claire Foy mit der genau richtigen Mischung aus Besorgnis und mütterlichem Eigenwillen gespielt. «Das war nicht nötig, wir waren zusammen», antwortet Adam.
Auch die Gespräche mit dem Vater sind geprägt von dieser faszinierenden dramaturgischen Ökonomie. In wenigen Sätzen evoziert Haigh einen ganzen Beziehungsroman, der die begrenzte, von den Vorstellungen seiner Epoche geprägte Erfahrungswelt des Vaters ebenso aufscheinen lässt wie die widersprüchlichen Emotionen, die Adam in der Erinnerung überkommen. So realistisch, so reich an Details verlaufen die Begegnungen, dass man wie Adam daran festhalten will, gegen jede rationale Einsicht in ihre Unwahrscheinlichkeit.
«All of Us Strangers». Regie und Drehbuch: Andrew Haigh. Grossbritannien 2023. Jetzt im Kino.