Kino: Das Elend der Risiko­abwägungen

Nr. 6 –

Wie die anhaltende Ungerechtigkeit der Welt in Bilder fassen? Die Brüder Dardenne arbeiten im Fluchtdrama «Tori et Lokita» mit Empathie – und einer konsequenten Verengung der Perspektive.

Filmstill aus «Tori et Lokita»: Tori (Pablo Schils) und seine Schwester Lokita (Joely Mbundu) sehen sich gezwungen, für einen Koch (Alban Ukaj) Drogen zu verkaufen
Fressen oder gefressen werden: Tori (Pablo Schils) und seine Schwester Lokita (Joely Mbundu) sehen sich gezwungen, für einen Koch (Alban Ukaj) Drogen zu verkaufen. Still: Christine Plenus

Es ist die allererste Einstellung von «Tori et Lokita»: Lokita (Joely Mbundu) schaut konzentriert knapp an der Kamera vorbei und spricht zu einem unsichtbaren Gegenüber. Sie erzählt von ihrer Flucht aus Benin und wie sie ihren kleinen Bruder Tori (Pablo Schils) im Waisenhaus wiederfand. Das Gegenüber stellt in freundlichem Ton Detailfragen: Wie der Schuldirektor geheissen habe, wie sie ihren Bruder nach vielen Jahren wiedererkannt habe oder wie sie dessen neuen Namen kennen konnte, wo er diesen doch erst im Waisenhaus erhalten hatte. Lokita gerät ins Stocken, einen Augenblick nur, doch das Geräusch der Tasten der Protokollantin, die jetzt Lokitas verdächtiges Zögern dokumentiert, ist unerbittlich. Die Leiterin des Verhörs schlägt eine Pause vor. Später solle ein Gentest Klarheit schaffen. Der offizielle Weg, in der Fremde zu überleben, bricht vor Lokitas resignierten Augen weg.

Ohne falschen Optimismus

Irgendwie muss sich das Kino ja zu den vielen sichtbaren und unsichtbaren Ungerechtigkeiten in der Welt verhalten, über die man auch in dieser Zeitung immer wieder liest. Es gibt Filme, die uns flüchten lassen, in andere Welten, Zeiten oder in die Fantasie, dass am Ende alles gut kommt. Oder es gibt jene, die Ungerechtigkeiten benennen und frontal konfrontieren; die mit erprobten didaktischen und narrativen Mitteln ihr Publikum für ein Thema «sensibilisieren», nicht ohne am Schluss noch ein wenig Hoffnung zu vermitteln. Und dann gibt es die Filme der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die sich mit grosser Empathie, aber definitiv ohne falschen Optimismus, in die tristen Realitäten ihrer Protagonist:innen begeben: Ihre Sympathien sind mit Nachdruck auf der Seite der Figuren und nicht des Publikums.

In einem Publikumsgespräch nach der Vorführung einer ihrer Filme in Solothurn stellte vor Jahren einmal jemand etwas zu suggestiv fest, ihm sei aufgefallen, dass es in ihren Filmen keine Musik gebe, worauf einer der Brüder dies bloss lakonisch bestätigte: «Non, il n’y a pas» – worauf man zur nächsten Frage überging.

In «Tori et Lokita» gibt es zwar Musik – das italienische Kinderlied «Alla fiera dell’est» etwa, das mit dem Kauf einer kleinen Maus beginnt, dann aber sofort und unerbittlich zur Fabel über Fressen und Gefressenwerden eskaliert, an deren Ende mehr oder weniger alle gestorben sind. Tori und Lokita singen es, um beim schäbigen Italiener den Karaokeabend in Gang zu bringen und damit fünf Euro zu verdienen. Lukrativer ist das Verkaufen von weichen und harten Drogen für den Koch Betim (Alban Ukaj) auf den Strassen von Liège.

Doch auch das reicht nicht, um die Schulden an die Schlepper abzubezahlen, die den beiden immer bedrohlicher aufzulauern beginnen. Betim macht ein weiteres Angebot, durch das Lokita zu gefälschten Papieren kommen könnte, das sie allerdings für eine Zeit von Tori trennen würde. Dass sie es annimmt, liegt weder an Naivität noch an krimineller Energie und nicht einmal an perfider Drehbuchlogik, sondern einzig daran, dass Menschen wie Lokita in gewissen Situationen keine Wahl mehr haben. Eine solch konsequente Verengung der Perspektive, wie sie hier Lokita erfährt, erlebt man im Kino nicht oft – und das ist wahrscheinlich auch gut so.

Energie ist streng begrenzt

Erbaulich mag all das nicht sein, und man bekommt manchmal gar den Eindruck, dass die Dardennes dem Prinzip Hoffnung etwas gar feindselig gegenüberstehen – als ob es sich grundsätzlich bei Optimismus um eine Art «Hopewashing» der herrschenden Realität handeln würde. Geniessen lässt sich in «Tori et Lokita» immerhin das Spiel der beiden Hauptdarsteller:innen: Sie vermitteln die intensive Zweckbeziehung zwischen dem Kind und der Jugendlichen ohne falsches Pathos und beinahe ohne Worte. Beides würde Energie kosten, und die ist streng begrenzt.

In Sequenzen, in denen Tori und Lokita möglichst rasch auf Hilfe von aussen angewiesen sind, und sei es nur für eine Wegbeschreibung, wird kein Wort zu viel geäussert und keine Sekunde zu viel an jemanden verschwendet, der als potenzieller Helfer in Sekundenschnelle aussortiert wurde. Die Ressourcen sind zu knapp, und sie werden immer knapper, während gleichzeitig immer mehr auf dem Spiel steht. Gegen Ende des Films trifft eine zufällig vorbeifahrende Autofahrerin eine Entscheidung – basierend auf «normaler» Risikoabwägung: im Zweifel gegen das Mühsame –, die alles verändert.

Fast niemand macht sich wirklich schuldig in der Welt, wie sie die Dardennes sehen, alle folgen einzig ihren Instinkten. Der Schengen-Raum, Frontex und die europäischen Asylgesetze lassen sich argumentativ begründen, von Menschen, die anderen Menschen nichts Böses wollen oder sich höchstens noch des Zynismus schuldig machen. Die Drogendealer verhalten sich entsprechend der Nachfrage, der Gesetzeslage und – erneut – der Risikoabwägung: im Zweifel gegen das Mühsame. Die Katze frisst die Maus, der Hund beisst die Katze, der Stock schlägt den Hund.

Das Ende der Geschichte ist in ihrem Anfang bereits angelegt, es gilt nur noch, möglichst effizient die Details dazwischen aufzufüllen. Hoffnung und Musik sind da überflüssig. Seit ungefähr ihrem zweiten Film wird den Dardennes vorgeworfen, sich zu wiederholen. Als ob sich das mit der Empathie gegenüber Menschen in aussichtslosen Lagen mittlerweile zum Besseren gewendet hätte.

«Tori et Lokita». Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne. Belgien/Frankreich 2022. Jetzt im Kino.