Literatur: Rettung in die Aussenwelt

Nr. 6 –

Das Private ist politisch. Das feministische Motto der siebziger Jahre könnte auch über der Autobiografie der österreichischen Autorin Erica Fischer stehen, die sich relativ spät auf die Spuren ihrer jüdischen Herkunft begab.

Portraitfoto von Erica Fischer
Das Selbstbewusstsein kam mit dem Feminismus: Erica Fischer. Foto: Jennifer Endom

«Spät lieben gelernt» betitelt Erica Fischer die Erzählung ihres Lebens, das am 1. Januar 1943 in England begann. Dort hatten ihre Eltern Zuflucht gefunden: Der Vater war ein linker Sozialist, die Mutter eine polnische Jüdin, die ursprünglich nach Wien gekommen war, um an der Kunstgewerbeschule zu studieren. Beide waren politisch aktiv und kamen unter dem Dollfuss-Regime wegen verbotener Gewerkschaftstätigkeit sogar vorübergehend ins Gefängnis. Nach dem «Anschluss» Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 blieb ihnen nur der Gang ins Exil.

Bestimmend für Erica Fischers Entwicklung war die Rückkehr der Familie 1948 in das Wien der Nachkriegszeit. Die Stadt war weiterhin stark von Antisemitismus geprägt, viele Rückkehrer:innen mussten das erleben; Georg Kreisler konnte davon einige Lieder singen. Eindringlich beschreibt die Autorin das Unglück ihrer jüdischen Mutter, die sich kaum vor die Tür traute, in jedem Menschen einen Nazi sah und sich an ihre zwei Kinder klammerte. Der Vater hingegen, der die Rückkehr durchgesetzt hatte, fühlte sich in Wien wohl und wandte sich zunehmend von seiner Frau ab.

Eine neue Wendung

Dass Erica Fischer «Spät lieben gelernt» hatte und erst im Alter, mit ihrem zweiten, italienischen Ehemann richtig glücklich wurde, führt sie in ihrer Autobiografie auf die lieblose Atmosphäre in der Familie zurück. Besonders katastrophale Folgen hatte die Situation für ihren Bruder, den die Mutter so eng an sich band, dass er lebensunfähig wurde. Er war hochintelligent und gebildet, hatte aber nach dem Studium keine Kontakte mehr zu Gleichaltrigen, sondern führte zu Hause das Leben eines Privatgelehrten. Nach dem Tod der Mutter beging er Selbstmord.

Im Unterschied zu ihrem Bruder suchte und fand die junge Erica Fischer ihre Rettung in der Aussenwelt. Sie wurde Dolmetscherin, arbeitete als Reiseleiterin und hielt sich gerne in fernen Ländern auf, besonders in afrikanischen. Gemeinsam mit anderen Linken unterstützte sie die dortigen Antikolonialismusbewegungen. Der Befreiungsschlag für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit war jedoch der Feminismus. Erst durch die Auseinandersetzung mit dem Patriarchat und in den gemeinsamen feministischen Aktionen in Wien konnte sie ein Selbstbewusstsein entwickeln: «Ich hatte mein Thema gefunden und konnte nur staunen, wie rasch meine Schüchternheit von mir abfiel», schreibt sie. Fischer lernte, öffentlich ihre Meinung zu sagen, organisierte Veranstaltungen und arbeitete an der Wiener Frauenzeitung «AUF» mit.

1988 wanderte sie nach Deutschland aus, Wien war ihr nach einem gescheiterten Versuch, in die Politik zu gehen, verleidet. Mittlerweile war sie eine gefragte Journalistin und Sachbuchautorin feministischer Themen. Gerne sagte sie zu, als ihr Verlag sie fragte, ob sie die Geschichte von Lilly Wust literarisch bearbeiten wolle, die als alte Frau bereit war, von ihrer Beziehung zur Jüdin Felice Schragenheim während der NS-Zeit zu erzählen. Daraus wurde 1994 der Weltbestseller «Aimée und Jaguar», der ein paar Jahre später auch verfilmt wurde.

Nicht nur wegen des Erfolgs gab das Buch Erica Fischers Leben eine neue Wendung. Im Lauf der Arbeit beschäftigte sie sich auch mit ihrer eigenen jüdischen Geschichte und begann, die Gründe für die Verbitterung und die Verhärtung ihrer Mutter zu verstehen. Sie lagen nicht nur in der Rückkehr ins verhasste Wien, sondern auch in der Verdrängung ihres Leids. Nie hatte die Mutter über das Schicksal ihrer Eltern gesprochen, die im Warschauer Ghetto eingesperrt waren und in Treblinka umgebracht wurden, nie hatte sie von ihrer Isolation als junge Studentin in Wien erzählt oder vom Antisemitismus während ihrer Kindheit in Polen.

Für einen gerechten Frieden

Erst durch Gespräche mit überlebenden Verwandten in Australien konnte Erica Fischer die Geschichte ihrer jüdisch-polnischen Familie rekonstruieren. Auch im Alltag wandte sie sich nun dem Judentum zu. Sie nahm an jüdischen Ritualen teil, wie dem Sederabend zum Auftakt des Pessachfests, das den Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten feiert. Da sie aber zu Religiosität keinen inneren Bezug hatte, dauerte diese Annäherung nicht lange. Hingegen wurde sie Mitglied im Verein «Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost», in dem sich Jüdinnen und Juden für eine andere Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen einsetzen; der Verein sympathisiert auch mit der BDS-Bewegung, die dazu aufruft, Importe aus Israel zu boykottieren. Dass diese kontroverse Bewegung in Deutschland von staatlicher Seite geächtet wird, dass sogar jüdische Personen, die Israels Palästinenserpolitik kritisieren, als Antisemit:innen beschimpft werden, kann Erica Fischer nicht akzeptieren. Dagegen kämpft sie derzeit, und ihre Empörung hält sie jung.

Erica Fischer kann spannend erzählen, von den Zeiten und den Bewegungen, von ihren Erfolgen und Frustrationen, von Liebesbeziehungen und innersten Gefühlen. Dass das Private politisch ist, wird durch diese Autobiografie eindrucksvoll belegt.

Buchcover von «Spät lieben gelernt. Mein Leben»

Erica Fischer: «Spät lieben gelernt. Mein Leben». Roman. Berlin Verlag. Berlin 2022. 224 Seiten. 34 Franken.