Debjani Bhattacharyya: «Die Politik sickerte wie durch Osmose in mich ein»

Nr. 8 –

Ein Lehrstuhl für die Geschichte des Anthropozäns? Die Zürcher Geschichtsprofessorin Debjani Bhattacharyya füllt die abstrakte Bezeichnung mit sehr konkreten Überlegungen über koloniale Küstenstädte, «fossilen Faschismus» und Landnahmen auf dem Papier.

Debjani Bhattacharyya sitzt auf einer Bank
«Wenn meine Studierenden sich politisch engagieren, zeigt sich das auch in ihren Arbeiten. Nur so kann universitäre Bildung einen wirklich verändern»: Debjani Bhattacharyya. Foto: Ursula Häne

WOZ: Debjani Bhattacharyya, Sie wurden 2022 aus Philadelphia an die Universität Zürich berufen. Kürzlich haben Sie auf einer Tagung an der ETH von Ihren Erfahrungen in den USA berichtet und das dortige «Diversity Management» kritisiert. Worum ging es Ihnen dabei?

Debjani Bhattacharyya: Die US-Universitäten wollen sich vor allem vor Klagen wegen Diskriminierung schützen. Deswegen versuchen sie, Diversity gleichsam zu managen. Man pickt sich also zwei Schwarze Studentinnen raus, fotografiert sie im Labor und zeigt sie prominent auf der Website, um sie zu Repräsentantinnen der Institution zu machen. Nach den Black-Lives-Matter-Protesten 2020 haben viele Universitäten umgehend ihre Websites und Werbebroschüren angepasst und ein paar Leitungspositionen mit People of Color besetzt.

Also geht es vor allem um PR?

Genau. Kurz nachdem ich in Zürich angekommen war, habe ich eine öffentliche Diskussion zum Thema «Exit Racism» im Schauspielhaus besucht. Die beiden Intendanten, die jetzt leider abtreten, sassen auf der Bühne, und die Moderatorin stellte ihnen ziemlich harte Fragen. Es war eine gute Diskussion. So etwas würde an einer vergleichbaren Institution in den USA nie passieren, dort würden sie eine für Diversity zuständige Person vorschieben. Das meine ich mit Diversity Management: Man stellt eine Person an, die für das Problem zuständig ist, und gibt ihr ein gutes Gehalt, aber kein Budget, um wirklich etwas zu verändern – um Studienprogramme und Lehrpläne umzubauen, inklusive Räume zu schaffen.

Verhindert das sogar mehr Gleichheit im Bildungssystem?

Ja. Und ich denke, das ist nicht nur ein Nebeneffekt, sondern Absicht. Wenn man sich anschaut, welche Fächer seit der Finanzkrise 2008 in den USA abgeschafft wurden, weil sie zu wenig marktorientiert waren, traf es die Erziehungswissenschaften oder die Sozialanthropologie, interessanterweise also genau die Fächer, die besonders viele Nichtweisse studierten.

Was die soziale Herkunft angeht, sind Schweizer Universitäten auch nicht besonders divers.

Ich bin begeistert, wie gut meine Student:innen in Zürich sind. Das hat auch damit zu tun, dass die Student:innenschaft hier ziemlich homogen ist. Offenbar schaffen es hier nur zwanzig Prozent der Bevölkerung an die Uni. Wie in Deutschland wird schon beim Übertritt ins Gymnasium stark sortiert. Ich weiss noch zu wenig über das System hier, um sagen zu können, was man dagegen tun könnte. Aber wenn ich durch Zürich gehe, wirkt es wie eine sehr diverse Stadt – was sich an der Universität aber nicht widerspiegelt. Wenn diese relevant für die Gesellschaft bleiben will, muss sich das ändern.

Studieren in den USA mehr Kinder aus Arbeiter:innenfamilien?

Nein, wir können sogar beobachten, dass seit 2008 Fächer wie Philosophie, Literatur oder Geschichte wieder stärker zum Privileg einer Elite werden. Studierende aus der unteren Mittelschicht oder aus Arbeiter:innenfamilien wählen eher technische Fächer, gehen lieber auf Fachhochschulen als auf Universitäten, weil sie denken, damit Geld verdienen zu können. In Indien muss übrigens ein Drittel der Student:innen an staatlichen Hochschulen aus der einstigen Kaste der Unberührbaren oder aus der indigenen Bevölkerung kommen. Trotzdem ist das Bildungssystem dort sehr undemokratisch.

Man muss vermutlich sehr privilegiert sein, um es wie Sie an eine Universität in den USA zu schaffen, ja?

Auf jeden Fall. Und bei Migrant:innen vor allem aus Südasien ist die Situation noch spezieller. In den USA gelten sie als eine «Modellminderheit», ein sehr problematischer Begriff. Die US-Immigrationspolitik der sechziger Jahre holte gezielt Leute aus der Elite ins Land. Die südasiatische Community gilt als gut assimiliert: Man verdient gut, lebt gern in Vorstädten. In den USA sagt man, dass diese Leute zwar Republikanisch denken, aber die Demokratische Partei wählen, weil sie von deren Politik profitieren. Dazu kommt, dass die südasiatische Community gegenüber Schwarzen und Latinos oft eine ablehnende Haltung einnimmt. Es ist also absurd, dass diese Leute das Gesicht des diversen Amerika sein sollen. Aber genau das ist oft zu beobachten, etwa in der Person von Kamala Harris, die halb Südinderin ist, oder auch bei CEOs im Silicon Valley.

Von Südasien nach Zürich

Seit etwas mehr als einem Jahr ist Debjani Bhattacharyya Professorin für die «Geschichte des Anthropozäns» am Historischen Seminar der Universität Zürich. Die 1980 in der ostindischen Kohlestadt Dhanbad geborene und in Kolkata aufgewachsene Historikerin beschäftigt sich insbesondere mit rechts- und umweltgeschichtlichen Fragestellungen.

In ihrem Buch «Empire and Ecology in the Bengal Delta. The Making of Calcutta» (2018) beleuchtet sie etwa das Zusammenspiel kolonialer Politik, der Etablierung von Eigentumstiteln und der Umgestaltung des natürlichen Raums im Gangesdelta, dem grössten Flussdelta der Welt. Vor ihrer Berufung nach Zürich arbeitete Bhattacharyya an Universitäten in Indien, Deutschland, den USA und den Niederlanden.

Sie haben an Universitäten in Atlanta und Philadelphia gearbeitet. Erlebten Sie eine Art akademischen Kulturschock, als Sie in die Schweiz kamen?

Es gibt tatsächlich grosse Unterschiede. In den USA habe ich immer Studierende aus verschiedenen Disziplinen unterrichtet: Ingenieurinnen, Jurastudenten und Geschichtsstudentinnen. Das Niveau an den Schweizer Gymnasien ist deutlich höher als an den öffentlichen Schulen in den USA, die Student:innen schreiben also viel bessere Arbeiten. Ich finde es auch faszinierend, dass Studierende in der Schweiz ihre Ausbildung im Schnitt deutlich ernster nehmen, obwohl sie viel weniger für ihr Studium bezahlen müssen. Es gibt hier nicht diese Hoffnungslosigkeit.

Hoffnungslosigkeit?

In den USA sehen viele Student:innen für sich schlicht keine Zukunft, weil sie von Schulden erdrückt werden. Sie wissen, dass viele nach dem Studium einen Job beginnen werden, den sie nicht mögen, und mehr als vierzig Stunden pro Woche arbeiten werden, um ihre Ausbildung abzubezahlen. Stellen Sie sich vor, Sie sind erst neunzehn und haben schon 60 000 Dollar Schulden! Ich habe Kolleg:innen in den USA, die sind über fünfzig und bezahlen immer noch ihre Studiengebühren ab.

Man liest viel über die in den USA angeblich grassierende «Cancel Culture». Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Ich habe zumindest von der Rechten viel darüber gehört (lacht). Das mit der «Cancel Culture» begann in den späten Jahren von Barack Obamas Präsidentschaft. Wenn man in die Geschichte schaut, stellt man fest: Auf jede gesellschaftliche Öffnung folgte ein Backlash. Die rassistischen Jim-Crow-Gesetze und die Lynchmorde an Schwarzen etwa waren eine Reaktion auf die Abschaffung der Sklaverei. Ähnlich war es nun, als unter Obama gewisse Fortschritte in Sachen Inklusion erzielt wurden. Die Behauptung der Rechten, Universitäten seien marxistische Brutstätten, ist Teil der Reaktion darauf. Das ist kompletter Blödsinn, diese Hochschulen sind elitäre Institutionen, die das Personal für die Wall Street ausbilden. Ausserdem waren die Unis in den sechziger und den siebziger Jahren wesentlich radikaler.

Wie politisch erleben Sie die Student:innen in Zürich?

Mir ist aufgefallen, dass es auf dem Campus weniger Aktivismus gibt, das Studium scheint insgesamt nicht so politisiert. Ist das eine Folge davon, dass die Studierenden so glücklich sind? Ich weiss es nicht.

Enttäuscht Sie das?

Das nicht, aber ich denke, dass die politische Bildung ausserhalb des eigentlichen Studiums entscheidend ist. Ich habe selber auf einem stark politisierten Campus studiert, das hat mich geprägt. Mein Studium fand nicht nur im Hörsaal statt. Ich bin zuerst auf eine katholische Missionsschule gegangen, das war interessant: Eine sehr koloniale Institution, meine Lehrerinnen waren britische und irische Nonnen, aber man erhielt dort eine ordentliche und günstige Ausbildung. Wenn du wie ich in Kolkata in eine kommunistische Familie geboren wirst, stehen die Chancen gut, dass dich deine Eltern in eine katholische Schule stecken.

Wie hat Sie das Studium geprägt?

Ich bin auf eine spezielle Universität gegangen, die von indischen Revolutionären als Protest gegen das britische Bildungssystem gegründet worden war. Es gab dort eine radikale Mischung an Student:in­nen aus ganz Indien und aus verschiedenen Kasten. Ich konnte also von meinen Kommiliton:innen lernen, wie privilegiert ich war und was es heisst, arm zu sein. Wir lernten von oben, von unseren Dozierenden, aber auch von unten – von denen, die mit uns studierten. Nur so kann universitäre Bildung einen wirklich verändern. Das beobachte ich auch bei meinen Studierenden: Wenn sie sich politisch engagieren, zeigt sich das auch in ihren Arbeiten.

Haben Sie Ihr politisches Denken von Ihrer Familie geerbt?

Ja und nein (lacht)… Ich bin wie gesagt in Kolkata aufgewachsen, in Westbengalen, wo es seit 37 Jahren eine liberale kommunistische Regierung gibt. Wir hatten die rosarote Brille auf, es wirkte wie ein funktionierender kommunistischer Staat. Tatsächlich kam meine frühe politische Bildung auch vom politischen Theater, wo ich mit meinen Eltern oft war, vielleicht auch, weil sie sich keine Kinderbetreuung leisten konnten. Einige meiner Verwandten waren in der Gewerkschaft, und mein Grossvater war ein Freiheitskämpfer. Die Politik sickerte wie durch Osmose in mich ein. Heute würde ich sagen: Ja, ich bin in einem sehr politisierten Umfeld aufgewachsen, aber auch in einem kulturell von der Oberschicht geprägten. Als ich an die Uni kam, erfuhr ich noch mal eine ganz andere Art von Politisierung.

Hier in Zürich haben Sie den Lehrstuhl von Philipp Sarasin übernommen, der für Sie in «History of the Anthropocene» umbenannt wurde. Wie stark unterscheidet sich Ihre Forschung von der Ihres Vorgängers?

Sarasin ist in gewisser Weise ein Wissenshistoriker wie ich. Aber meine Forschung unterscheidet sich schon stark von seiner. Ich untersuche beispielsweise, wie die Klimawissenschaften entstanden sind. Lehrstühle werden nicht automatisch erneuert, man muss argumentieren, wie man damit auf aktuelle Strömungen in der Wissenschaft reagiert. Vor allem Umwelt- und Klimageschichte gab es hier zuvor nicht. Ob wir das Konzept des Anthropozäns mögen oder nicht – ich persönlich bin ziemlich ambivalent –, es hat wichtige Debatten darüber eröffnet, etwa wie wir über Zeit nachdenken oder mit welchen Archiven wir arbeiten.

Wofür interessieren Sie sich in Ihrer Forschung?

Meine Arbeit stand immer in Beziehung zu aktuellen politischen Entwicklungen. Mein Buch «Empire and Ecology in the Bengal Delta» habe ich geschrieben, als in Indien die Fragen von Landbesitz und Enteignung sehr wichtig wurden. Im Buch ging es um die Neuordnung von Landflächen als neoliberale Ware in einem ökologisch unbeständigen Raum, dem Sumpfgebiet von Kolkata. Die Frage meiner aktuellen Forschung schliesst daran an: Wieso wenden wir uns dem Markt zu, um die Klimakrise zu lösen, wenn es dort draussen so viel Wissen übers Klima gibt? Mich interessiert die Geschichte dieser Verirrung.

Können Sie erklären, wie Sie koloniale Politik, Eigentum und die Transformation der Landschaft in Ihrem Buch verbinden?

Verschiedene politische Techniken wurden erst in Bengalen – dem heutigen Nordostindien und Bangladesch – ausprobiert, bevor sie in Europa implementiert wurden. Zum Beispiel wurde die Identifizierung durch den Fingerabdruck dort erprobt, bevor sie eine Polizeitechnik wurde. So wurde auch mit neuen Formen von Landbesitz experimentiert. In den Archiven in Kolkata ist mir aufgefallen, dass viele Auseinandersetzungen im 18. und 19. Jahrhundert sich darum drehten, was Eigentum ist. Auf den historischen Karten der britischen Kolonialverwaltung findet man zahlreiche Orte, die schon 1830 als Festland markiert waren, obwohl dort zum Teil heute noch Wasser ist – bevor das Wasser verschwand, war es auf dem Papier bereits verschwunden. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird die Landgewinnung zu einer Meisterleistung der Ingenieure. Doch bereits ab dem 18. Jahrhundert gab es eine andere Form der Landgewinnung, die allein auf dem Papier geschah, ein juristisches Tauziehen, um den Leuten die reichhaltigen Gewässer zu entreissen. Oft waren das die Gebiete, wo die Armen – Dalits, die «Kastenlosen» – wohnten, die vom Fischen lebten. Es ist eine Geschichte der Verdrängung.

Und wo kommt das Klima ins Spiel?

Wenn Sie sich die Küstenstädte anschauen, die durch den ansteigenden Meeresspiegel bedroht sind, sind das oft koloniale Städte: Jakarta, New Orleans, Singapur, Mumbai oder eben Kolkata. Sie wurden an Schiffsrouten errichtet, damit weniger Ressourcen nötig waren, um sie zu erreichen. Davor hat man Städte eher im Landesinnern gebaut. Woher kam also die Hybris, dass wir plötzlich am Wasser bauen und dort 200 Jahre überleben können? Heute geht es darum, wer in diesen Städten bedroht ist – das sind die Armen, die unten am Wasser leben.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Kolkata für die Briten der Ort schlechthin gewesen sei, der für Krankheit und Tod gestanden habe. Auch heute noch dürften viele die Stadt mit Armut und Elend verbinden. Ist das ein historisches Muster?

Kolkata ist heute ein Ort, an dem Arme bis zu einem gewissen Grad immer noch ein gutes Leben führen können: Sie können sich etwa den öffentlichen Verkehr leisten, weil die Stadt extrem günstig ist. Die Armen sind auch im öffentlichen Raum präsent, dadurch haben sie Mitsprache in der Stadt. In Mumbai dagegen stehen heute riesige bemalte Metallplatten, die den Blick auf die Slums verdecken. In weiten Teilen der Stadt ist die Armut unsichtbar. Ähnlich ist es in Delhi, aber eben nicht in Kolkata. Ich will nicht romantisieren, was es bedeutet, etwa als obdachlose Frau dort auf der Strasse zu leben. Aber die Ungleichheit ist zumindest sichtbar.

Sie haben vorhin gesagt, Sie stünden dem Konzept des Anthropozäns ambivalent gegenüber. Wieso das?

Zum einen rückt dieser Begriff den Menschen ins Zentrum, nährt seine Hybris: Er ist es, der die Atmosphäre verändert. Und das in einer Zeit, in der anthropologische, soziologische oder politische Theorien gerade versuchen, nicht mehr nur auf die menschliche Subjektivität zu fokussieren. Das geschieht sogar in der Rechtswissenschaft, wenn dort etwa darüber diskutiert wird, ob ein Fluss Rechte haben könnte. Zum anderen: Wenn uns postkoloniale Geschichte eins gelehrt hat, dann das, dass Metanarrative und universalistische Kategorien zu hinterfragen sind. Das Konzept des Anthropozäns birgt die Gefahr, die Geschichten von Ungleichheit und Kolonisierung auszulöschen – etwa indem impliziert wird, alle Menschen wären gleichermassen verantwortlich für Treibhausgase.

Gibt es Alternativen?

Leute wie Andreas Malm und Jason W. Moore werfen die Frage auf, ob man nicht eher von «Kapitalozän» reden sollte. Interessant finde ich den Vorschlag, von «Plantagozän» zu sprechen: Der Begriff ermöglicht es, Verbindungen zur Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei zu ziehen. Die Plantage ist ein System, das in der frühen Moderne entwickelt wurde und so manches überdauert hat: den Zusammenbruch der Sklaverei, die Dekolonisierung. Es gab Plantagen im Realsozialismus, und es gibt sie immer noch auf der ganzen Welt.

Lassen sich über die Plantage die Klimageschichte und die Geschichte des Kapitalismus verbinden?

Zum einen müssen wir untersuchen, wo all die Dinge herkommen, die die Klimakrise verursachen. Auf der Insel Madeira westlich von Marokko gab es die ersten Zuckerplantagen. Dort wurde auch die Schichtarbeit entwickelt, also ein Grundbaustein der modernen Industriearbeit, lange bevor Adam Smith in «The Wealth of Nations» seine Stecknadelfabrik beschrieb. Das Produktionssystem der Plantagen auf Madeira breitete sich in grösserem Massstab über die Karibik nach Brasilien aus. Zum anderen stellt sich die Frage, wieso man überhaupt nach Madeira ging: Das hatte damit zu tun, dass die mittelalterliche Wärmeperiode zu Ende ging, Europa brauchte südlicher gelegenes Ackerland. Es geht mir nicht um einen Umweltdeterminismus, aber Kapitalismuskritik sollte sich auch natürlicher Grenzen bewusst sein, die zur Suche nach neuen Räumen führen.

Sie haben erwähnt, dass die Klimakatastrophe in Küstenstädten wie Kolkata längst spürbar ist. Ist das Klima in der öffentlichen Diskussion in Indien präsent?

Das Thema ist sehr wichtig, aber die Leute sprechen nicht von der Klimakrise. Sie nehmen die klimatischen Veränderungen auf andere Weise wahr, zum Beispiel im Kontext von Ritualen. Es gibt ein hinduistisches Ritual, das den Namen «Übergang der Sonne in das Krokodil» trägt und bei dem man im Meer schwimmt. Es richtet sich komplett nach den Bewegungen von Fischen, auch Haifischen, die nun aber von den sich verändernden ozeanischen Strömungen komplett durcheinandergebracht wurden, mit der Folge, dass die Menschen das Ritual heute nicht mehr durchführen können, weil sie von Haifischen angegriffen würden. In solchen Ritualen steckt oft ein detailliertes Wissen über die ökologische Umgebung, aber wir sind so säkular, dass wir oft nicht wissen, wie wir dieses Wissen lesen und verstehen sollen.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass unter Premier Narendra Modi in Indien oder unter Expräsident Jair Bolsonaro in Brasilien ein «fossiler Faschismus» aufgestiegen sei. Was meinen Sie damit?

Der Begriff kommt vom schwedischen Humangeografen Andreas Malm. Er bezeichnet damit bestimmte autoritäre Regimes, wobei er Südasien ausklammert. Inspiriert ist das Konzept von der Politikwissenschaftlerin Cara Daggett, die in einer Arbeit über die USA von «petro-masculinity» spricht: die Verbindung von grossen Autos und Männlichkeitsidealen oder die Assoziation von Benzin mit Freiheit. Es geht darum, wie autoritäre Regimes über die Erschliessung fossiler Ressourcen ihre Macht ausdehnen. Das ist hochkolonial, in Brasilien wurde so etwa die Bevölkerung im Amazonas verdrängt. In Indien ist es ähnlich: Dort, wo Kohle abgebaut wird, lebt auch die indigene Bevölkerung. Mehr als die Hälfte derer, die für Entwicklungszwecke von ihrem Land verdrängt wurden, gehören zur indigenen Bevölkerung, gleichzeitig haben sie am wenigsten von den Früchten dieser Entwicklung.

In gewisser Weise lebt also der Kolonialismus in dieser Art Politik fort?

Es ist interessant, die autoritären Regierungen missbrauchen Motive aus der postkolonialen Kritik, um zu begründen, warum sie keine Dekarbonisierung anstreben. Das Argument geht in etwa so: Wir konnten uns wegen des Kolonialismus nicht so entwickeln wie die «Erste Welt», deswegen werden wir jetzt sicher nicht auf fossile Brennstoffe verzichten. Dieses Argument kommt häufig vonseiten der hindunationalistischen Regierung in Indien. Die Debatte gibt es aktuell wieder in Bezug auf Kaschmir, wo die grössten Lithiumvorkommen der Welt entdeckt wurden: Wem gehören die Ressourcen? Soll wirklich die Besatzungsmacht Indien davon profitieren?

War Ihnen vor Ihrer Ankunft in der Schweiz bewusst, wie verspätet die Debatte um die Verstrickung des Landes in den Kolonialismus hier stattfand?

Auf diese Verstrickungen wurde ich erstmals durch die Arbeit von Patricia Purtschert aufmerksam, ausserdem habe ich mich etwas eingelesen, bevor ich hierherkam. Aber wirklich spürbar wurde diese Geschichte für mich erst, als ich mit meinen Student:innen an einem Rundgang durch das koloniale Zürich mit Monique Ligtenberg und Stephanie Willi von der ETH teilnahm. Aber sehen Sie, auch an britischen Schulen wird die Geschichte des Kolonialismus nicht wirklich unterrichtet. Eher geht es darum, wie England die Eisenbahn, den Telegrafen, also die Zivilisation, nach Asien und Afrika brachte.