Durch den Monat mit Sarah Elena Müller (Teil 2): Muss man das Leben anhalten, um zu schreiben?

Nr. 10 –

Warum das Kunstmachen kein Entweder-oder ist und wieso zeitgeistige Literatur ihre ganz eigenen Qualitäten hat.

Portraitfoto von Sarah Elena Müller
«Die Trennung von ‹Kunst› und ‹Alltag› ergibt nicht allzu viel Sinn, wenn es um Freundschaft geht oder Aktivismus»: Sarah Elena Müller.

WOZ: Sarah Elena Müller, haben Sie eigentlich nachts von Ihren Romanfiguren geträumt?

Sarah Elena Müller: Das war schon manchmal obsessiv, ständig von den sechs bis acht Charakteren umgeben zu sein. Klar habe ich von denen geträumt, vom Kind, den Eltern und der Täterfigur, ich habe mit ihnen nächtelang Gespräche geführt. Aber irgendwann reichts auch mit der Heimsuchung. Dann ist man froh, dass ein Buch zwei Deckel hat und auch mal Schluss ist. Und die Auseinandersetzung geht ja jetzt weiter, in den Lesungen und Gesprächen.

Das Missbrauchsthema wird in Ihrem Buch «Bild ohne Mädchen» nur angedeutet. Hatten Sie je die Befürchtung, zu viel im Ungefähren, die Leser:innen gar etwas im Stich gelassen zu haben?

Die Rückmeldungen zeigen mir, dass die Leute sehr unterschiedlich auf die Figuren reagieren und deren Handlungsweisen verschieden deuten. Wenn man so will, leben die Figuren gerade deshalb weiter, weil sie im Text ihre Freiräume geniessen. Ich habe schnell gemerkt, wie sich meine Figuren wehrten, wenn ich sie zu sehr in eine Richtung gedrängt habe. Wenn ich mit meinen Wünschen auf sie eingedroschen habe, dann ist einfach nichts mehr passiert. Sie sperrten sich und wurden mühsam.

Das klingt recht mystisch.

Sicher, aber es war, als würden sie mir Widerstand leisten. Es ging also nicht darum, was ich als letztlich öffentliches Abbild einer Missbrauchssituation stehen haben wollte. Ich musste auch sehr genau auf die Desillusion der Erwachsenenfiguren, auf ihre nicht eingelösten ideologischen Existenzen eingehen. Da kommt man auf kein rundes Ende.

Mit ihrem Rückzug ins Bergdorf versuchen Ihre erwachsenen Figuren – sowohl die Eltern des Mädchens wie auch der Nachbar –, sich gewissermassen das komplexe Leben vom Leib zu halten.

Der Nachbar, Medientheoretiker, verliert sich in philosophischen Tiefenbohrungen, der Vater vergräbt sich in seinem Job als Biologe am Flussbett und in Excel-Tabellen. Die Mutter sucht Antworten in der Kunst – zum Bildhauern hat sie immer Kopfhörer auf. Die Charaktere erstarren in ihren jeweiligen spezifischen Interessen. An der Mutter ist der Schmerz dieses Entweder-oder besonders gut zu sehen: Für sie ist die Kunst der Gegenentwurf zur Kleinfamilie. Sie verzweifelt an dieser Unvereinbarkeit. Da ist nichts Fluides, entweder wendet sie sich ihrem Kind oder ihren Figuren zu.

Sie haben an der Vernissage zu «Bild ohne Mädchen» gesagt: «Ich wollte ums Verrecken ein Buch schreiben.» Das klingt auch nach Entweder-oder.

Auf jeden Fall. Aber das ist nicht nur beim Schreiben so. Überall, wo ich künstlerischen Ehrgeiz vorschiebe, wenn ich Beziehungen vernachlässige, ist immer diese Waage in mir: Lohnt sich das jetzt? Auszusteigen aus dem Akuten, damit später vielleicht irgendwas, was ich gemacht habe, akut sein könnte? Das Schreiben ist da besonders hart, der ganze Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die einzige Austauschachse ist die Zeit.

Muss man das Leben anhalten, um schreiben zu können?

Das ständige Hin und Her zwischen Abschottung und Aussetzen gehört zum Schreibprozess integral dazu. Und vielleicht gelingt uns ja im besten Fall die hundertprozentige Verschränkung von allem! Genau das ist es, was mir sehr gefallen hat in Julia Webers letztem Buch. Es heisst «Die Vermengung». Ich glaube, in diesem Feld passiert zurzeit sehr viel. Die Trennung von «Kunst» und «Alltag» ergibt nicht allzu viel Sinn, wenn es zum Beispiel um Freundschaft geht oder Aktivismus, Kindergrossziehen, Fortgehen, Hierbleiben …

Den Figuren in «Bild ohne Mädchen» ist diese Auseinandersetzung kaum vergönnt. Hätten Sie sich manchmal fortschrittlicheres Personal für Ihren Text gewünscht?

Das wurde auch von Kolleg:innen angemerkt: He, deine Frauenfiguren, das sind keine emanzipierten Frauen! Warum schreibst du ein Buch, das die – und damit meinten sie wohl auch: uns – so abbildet? «Bild ohne Mädchen» ist eben keine Utopie. Das Buch spielt in den neunziger Jahren, und es wäre auch heute ähnlich denkbar. Es war nicht meine Aufgabe, mir eine Idealvorstellung auszudenken: nicht in diesem Buch und nicht bei diesem Thema. Zuletzt habe ich sogar noch Szenen rausgestrichen, die ein solidarisches Verständnis unter den weiblichen Figuren angedeutet hätten.

Vertragen sich Aktivismus und Literatur grundsätzlich nicht so gut?

Doch, auf jeden Fall. Aber hier passiert der Aktivismus eher im Rahmenprogramm, in Gesprächen und Begegnungen oder in Fragen der Auslegung. Wenn ein Buch alles erklärt – ja, dann wäre es womöglich zeitgeistiger oder modischer. Da habe ich im Übrigen auch gar nichts dagegen, ich mag solche Bücher. Durch mein zeitgenössischeres Lesen habe ich gemerkt: Wie geil, da sind so viele Autor:innen und aktivistische Literatur – manchmal fühlt es sich an, als würden gewisse Bücher eine Fliege aufspiessen können, so beeindruckend genau durchschneiden sie das Jetzt.

Sarah Elena Müller (32) findet, sie habe eigentlich kein gutes Gespür für den Zeitgeist. In der nächsten Folge erklärt sie, wieso ihr Buch «Bild ohne Mädchen» trotzdem ganz nah am Tagesgeschehen gelesen werden kann.