Durch den Monat mit Sarah Elena Müller (Teil 3): Verstehen Sie das Unverständliche?

Nr. 11 –

Die Autorin Sarah Elena Müller sagt, warum bei pädosexuellem Missbrauch auch die Täterposition mitgedacht werden muss. Das ist besonders dort kompliziert, wo sich Identität in der Kunst verfängt.

Portraitfoto von Sarah Elena Müller
«Wir denken, wir könnten uns über das blanke Verständnis aller noch so schlimmen Dinge bemächtigen. Uns darüber hinwegdenken»: Sarah Elena Müller.

WOZ: In Ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» landen wir in einem verbohrten Aussteiger:innenmilieu. Sarah Elena Müller, was ist eigentlich ein Spiesser?

Sarah Elena Müller: Einer, der alles und alle und gerne seine Nächsten, aber niemals sich selbst des Spiessertums verdächtigt. In meinem Buch also einer wie der Medientheoretiker, ein alternder Achtundsechzigerintellektueller. Fürs Überleben ist er auf seine «spiessige» Frau unbedingt angewiesen, die ihm den Haushalt schmeisst und seine Rechnungen bezahlt.

Ist Ihr Buch also auch ein Abgesang auf Altachtundsechziger, die sich verrannt haben?

Ich hatte meine Befürchtungen gegenüber dieser Lesart. Dass das Buch sofort vereinnahmt wird aus einer konservativen Ecke, die dann verlautet: Der Kultursündenpfuhl und die gescheiterten Achtundsechzigerpädos – das haben wir schon immer gewusst! Ich wollte keine unnötige Verallgemeinerung machen, aber was mir auffiel: Die Revolutionäre von damals haben teils ein sehr emotionales Verhältnis zum eigenen Aufbruch und reagieren empfindlich auf Kritik. Es ging mir nie darum, abzuwerten, was diese Bewegung erreicht hat, gerade in ihrer Pluralität und Heterogenität. Ich verhandle im Buch Randfiguren, das muss klar sein.

Gab es denn bereits solche Kritik oder Vereinnahmungsversuche?

Nein, zum Glück nicht. Aber ich habe viel darüber nachgedacht: Wie programmatisch kann man mir das auslegen? Wie weit lässt das Buch das überhaupt zu? Ich wollte mit meinen intensiven Recherchen Material erschliessen, das die Sache nicht so eindeutig macht. Mir war es wichtig, möglichst nahe an der Realität der Betroffenen zu bleiben und mich nicht mit Verurteilungen von Milieus aufzuhalten. Mir eine Perspektive ausdenken, die weder Täter noch Opfer stigmatisiert oder retraumatisiert. Ich durfte Gespräche mit einem Täter führen und mit verschiedenen Betroffenen, das ermöglichte mir eine gewisse Mehrstimmigkeit.

Konnten Sie – gerade aus diesen Gesprächen – etwas entwickeln, das man als ein Verständnis für das Unverständliche beschreiben könnte?

Die vertiefte Recherche hat sicher viel dazu beigetragen. Aber Verständnis … na ja, das ist ein erkenntnisgeschichtlich antikes Konzept. Wir denken ja immer noch, wir könnten uns über das blanke Verständnis aller noch so schlimmen Dinge bemächtigen. Uns darüber hinwegdenken. Aber gerade wenn es um ein Thema wie pädosexuellen Missbrauch geht, merken wir, dass bei der Diskussion zum Beispiel auch religiöse Komplexe reinspielen: Schuld, Vergebung, Opfer. Das hat dann mit einem Verstandesbegriff nicht so viel zu tun.

Das Schema von Täter und Opfer bleibt eine verbreitete Denkschablone. Was wünschen Sie sich etwa von einer Zeitung, wenn es um die Berichterstattung über sensible Themen wie Pädosexualität und Strafe geht?

Dass auch ohne tagesaktuellen, schrillen Aufhänger über das Thema berichtet wird. Ausserdem hilft es sicher, in Texten darauf hinzuweisen, dass es Stellen gibt, die Hilfe leisten können. Und Wege zu finden jenseits einer Aburteilung. Andererseits kann ich die allgemeine Überforderung mit Erscheinungen wie Pädosexualität gut verstehen. Die Sache ist so kompliziert – gerade im Kulturbetrieb: Das war jüngst bei Florian Teichtmeister wieder sichtbar, ein gefeierter Schauspieler, der in grossem Ausmass pädopornografisches Bildmaterial angesammelt hat. Da fällt die Unterscheidung zwischen Künstler und Werk plötzlich sehr schwer. Mit dem Konsum von Kultur haben wir unser Inneres mit den Produkten eines Künstlers ausgestattet, und es fühlt sich plötzlich an, als wäre das eigene Wohnzimmer mit giftigen Möbeln bestückt, die wir nun schleunigst wieder loswerden wollen. Es ist der identitätsstiftende Anteil von Kultur, der uns nach einer solchen Meldung aufwühlt.

Die einen schreien dann «canceln», die anderen «Cancel Culture». Was wäre eine sinnvollere Stimme?

Wenn bei jedem Einzelfall grosszügig mit schuldbehafteten Termini operiert wird, sollten wir immer mal wieder innehalten. Und sicherstellen, dass wir die Komplexität der Anlage nicht auf die Wut über einen Fall einkochen und nicht ein weiteres Monstrum konstruiert und stigmatisiert wird. Wenn Missbrauchsfälle überall existieren, immer passieren, dann existieren auch überall potenzielle Täter:innen, die vielleicht eher und früher Hilfe suchen würden, wenn sie wüssten, dass es entsprechende Stellen gibt.

Was ist mit dem Vergeltungswunsch der Betroffenen?

Es gibt diesen Moment, wo betroffene Personen sehr sensibel auf zurückhaltende Berichterstattung reagieren, die sich wie eine Relativierung anfühlen kann – das liegt aber vor allem daran, dass die wenigsten Täter vor Gericht angeklagt werden. Eine bessere Gerichtsbarkeit – wie sie mit der gesetzlich verankerten Unverjährbarkeit von 2013 vorangetrieben wurde – ist unbedingt nötig. Es ist doch nicht so, dass Betroffene eine riesige Genugtuung verspüren, wenn jemand schreibt, der Täter sei ein Arschloch, und man sollte ihn kastrieren.

Sarah Elena Müller ist mit ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» auf Lesetour. Am Dienstag, 21. März 2023, um 20 Uhr liest und diskutiert sie in der Bar Sphères in Zürich.