Kirill Serebrennikow: Keine Gnade für den Künstler

Nr. 45 –

Seit Mittwoch dieser Woche muss sich der gefeierte Regisseur Kirill Serebrennikow in Moskau vor Gericht verantworten. Veruntreuung staatlicher Subventionen lautet der Vorwurf. Tatsächlich geht es um viel mehr.

Warum trifft es gerade den Liebling der Szene? Der angeklagte Regisseur Kirill Serebrennikow an seiner Gerichtsverhandlung am Mittwoch in Moskau. FOTO: EVGENY FELDMAN, MEDUZA

Wer die politischen Ereignisse in Russland verfolgt, den überrascht die Causa Serebrennikow nicht. Immer heftiger war die Kunst in den vergangenen Jahren ins Visier des Staatsapparats geraten. Doch dass es ausgerechnet einen wie den allseits gefeierten Film- und Theaterregisseur Kirill Serebrennikow treffen würde, hatten dann doch die wenigsten Kulturschaffenden erwartet. Seine Verhaftung am Set seines Films «Leto» in St. Petersburg schockierte die Kulturszene in- und ausserhalb Russlands.

Diesen Mittwoch hat in Moskau der Prozess gegen den 49-Jährigen und seine drei Mitangeklagten begonnen. Der Vorwurf: Veruntreuung staatlicher Subventionen im Wert von mehreren Millionen Franken. Als Beweise für den angeblichen Diebstahl führen die ErmittlerInnen etwa Serebrennikows Berliner Wohnung an, die er nachweislich schon vor dem fraglichen Zeitraum besass, und ein Stück, das seit Jahren vor begeistertem Publikum gezeigt wird und internationale Preise gewonnen hat, von dem die Staatsanwaltschaft nun aber behauptet, es sei nie aufgeführt worden.

Seit seiner Verhaftung im August 2017 darf Serebrennikow seine Moskauer Zweizimmerwohnung nur für kurze Spaziergänge verlassen, Telefon und Internet sind genauso tabu wie Gespräche mit den Medien. Der Kontakt mit der Aussenwelt läuft ausschliesslich über seinen Anwalt. Dass an vielen Vorwürfen nichts dran ist, spielt für den Prozess keine Rolle. Schon die Festnahme kommt einem Schuldspruch gleich – zu Freisprüchen kommt es in Russland so gut wie nie. Den vier Angeklagten drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Seit jeher ist alles, was den öffentlichen Raum in Russland betrifft, politisch. Entsprechend geht es bei der Causa Serebrennikow um viel mehr als um verschwundenes Geld: um die Frage nämlich, was Kunst in einem autoritären System darf und was nicht. Und darum, wie sich KünstlerInnen in diesem System zu verhalten haben.

Der liberale Freigeist

Ihren Lauf nimmt die Geschichte im Frühling 2011. Der damalige Präsident Dmitri Medwedew will das Land modernisieren – und wendet sich der Kunst zu. Serebrennikow, der bereits auf den grossen Bühnen des Landes inszeniert und sich in der Kulturszene wie im Staatsapparat grosser Beliebtheit erfreut, scheint für die Modernisierung des Theaters der Richtige zu sein. Im Herbst startet er dank grosszügiger staatlicher Fördermittel das Werkstattprojekt Platforma.

In den folgenden Jahren etabliert sich das Kollektiv als Versuchslabor für moderne Kunst. Serebrennikow selbst feiert nicht nur in Russland immer grössere Erfolge. Er wird mit Preisen ausgezeichnet, sorgt dafür, dass russisches Theater in Europa wieder ernst genommen wird. Er übernimmt das darbende Gogol Center in Moskau, das unter seiner Leitung zu einer der angesagtesten Bühnen der Hauptstadt avanciert.

Ein Oppositioneller ist Serebrennikow nicht; doch als Künstler bezieht er nicht nur in seinen Stücken immer wieder politisch Position. Ab und an lässt er sich auf Demonstrationen gegen das Regime blicken. Doch im Grunde bleibt er ein Liberaler, der sich mit dem Regime arrangiert, weil Erfolg ohne den Staat nicht zu haben ist.

2014 ist das Projekt Platforma beendet. In der Zwischenzeit hat sich auch politisch der Wind gedreht. Nach der Annexion der Krim und während des Krieges in der Ostukraine verändert sich das gesellschaftliche Klima – und unter der Herrschaft von Wladimir Putin, der inzwischen wieder Präsident ist, ist für einen Freigeist wie Serebrennikow kein Platz mehr. Der Staat und der Künstler entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen.

Dass der Theatermacher überhaupt angeklagt werden konnte, ist einer Besonderheit der russischen Gesetzgebung geschuldet. Demnach dürfen Subventionen nur bargeldlos erfolgen. Um trotzdem produzieren zu können, sind Theaterhäuser gezwungen, sich in eine rechtliche Grauzone zu begeben: Über Umwege wird aus Fördermitteln Bargeld, das wiederum in Requisiten oder sonstige Käufe investiert werden kann. Was theoretisch illegal ist, gehört zum Alltag. Auch Serebrennikow musste sich damit arrangieren. Doch wer das tut, macht sich angreifbar.

Ein Jude als Exempel?

Warum es gerade den Liebling der Szene traf, ist Gegenstand heftiger Spekulationen. Weil alle vier Angeklagten einen jüdischen Hintergrund haben, vermuten manche staatlich geförderten Antisemitismus. Andere meinen, dem Künstler sei zum Verhängnis geworden, dass er aus seiner Homosexualität keinen Hehl macht. Vielleicht hat er sich auch durch seine unkonventionelle Biografie zur Zielscheibe gemacht.

Aufgewachsen ist Kirill Serebrennikow in Rostow am Don unweit der Grenze zur Ukraine. Als Sohn einer Familie aus der sowjetischen Intelligenzija studiert er dort auf Wunsch der Eltern Physik, bevor er beim Lokalfernsehen seine Karriere beginnt. Er inszeniert am örtlichen Theater, wird in die Hauptstadt eingeladen. Es dauert nicht lange, bis einflussreiche Kulturschaffende auf den jungen Künstler aufmerksam werden. Innert kurzer Zeit wird Serebrennikow zum neuen russischen Theaterstar.

Dass er im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der Szene keinen entsprechenden Abschluss besitzt, passt nicht allen. Auch die von ihm und Präsident Medwedew forcierte Erneuerung kommt nicht überall gut an. Serebrennikow sei zur «emblematischen Figur des Modernisierungstrends» geworden, schreibt die russische Journalistin Marina Dawydowa im Magazin des Zürcher Opernhauses, wo am letzten Wochenende seine Inszenierung von «Così fan tutte» in Abwesenheit des Regisseurs Premiere feierte.

Vor Verfolgung ist niemand sicher

In Russland wird Serebrennikows Fall häufig mit dem Schicksal eines anderen Visionärs verglichen: Regisseur Wsewolod Meyerhold (1874–1940), der einst das russische Theater revolutionierte. Meyerhold inszenierte in diversen europäischen Städten, feierte riesige Erfolge und inspirierte unter anderem Bertolt Brecht. Im Zuge des Grossen Terrors wurde der Avantgardist in Moskau hingerichtet.

Auch wenn die beiden Geschichten nur bedingt vergleichbar sind – eins ist mit dem Prozess gegen Kirill Serebrennikow klar geworden: Niemand ist vor Verfolgung sicher. Der russische Machtapparat kann sich jederzeit auch gegen diejenigen wenden, die er einst für förderungswürdig hielt.

«Così fan tutte» in der Inszenierung von Kirill Serebrennikow wird bis 1. Dezember 2018 am Opernhaus Zürich gezeigt.

Nachtrag vom 2. Juli 2020 : Warnschuss für Russlands Kulturszene

Drei Jahre dauerte das Verfahren gegen den russischen Regierebellen Kirill Serebrennikow und drei weitere Personen. Am Freitag sprach nun ein Moskauer Gericht das Urteil im sogenannten Theaterfall. Es befand den Fünfzigjährigen der Veruntreuung staatlicher Fördergelder für schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Haftstrafe von drei Jahren sowie einer Zahlung von umgerechnet rund 11 000 Franken. Auch die anderen Angeklagten wurden schuldig gesprochen.

Während im voll besetzten Gerichtssaal der letzte Akt eines absurden Prozesses aufgeführt wurde, trotzten draussen Hunderte UnterstützerInnen dem Demonstrationsverbot, darunter viel russische Kulturprominenz und Intelligenzija. Nach Bekanntgabe des Strafmasses brach vor dem Gebäude lauter Jubel aus.

Stundenlang hatte die Richterin zuvor die Urteilsbegründung verlesen. Unter anderem bezeichnete sie Serebrennikow als «Kopf einer kriminellen Vereinigung». Doch je länger sie las, desto offensichtlicher wurde, dass die Vorwürfe konstruiert sind. Die Staatsanwaltschaft hatte für den Regisseur, der auch schon am Zürcher Opernhaus inszenierte, sechs Jahre Haft gefordert. Ein derart hohes Strafmass bei derart dünner Beweislage gegen einen international gefeierten Künstler zu verhängen – das hat sich das Gericht dann offenbar doch nicht getraut.

Womöglich war es aber ohnehin um mehr gegangen: Das Verfahren gegen den Starregisseur sollte die russische Kulturszene einschüchtern. Dies ist auch ohne Haftstrafe gelungen. Treffend fasste dann auch die unabhängige «Nowaja Gaseta» das Urteil zusammen: «Erniedrigung statt Hinrichtung. Strafe statt Freiheitsentzug. Farce statt Drama.»

Anna Jikhareva