Auf allen Kanälen: «Wie rasierst du dich?»

Nr. 12 –

In der Zeitschrift «Le Papotin» veröffentlichen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung Zeichnungen und Texte – und auch schon mal ein unkonventionelles Interview mit Präsident Macron.

stilisierter Ausschnitt aus dem Logo der Zeitschrift «Le Papotin»

Paris, der Saal des Hohen Rates im Institut du monde arabe. Emmanuel Macron stellt sich einem aussergewöhnlichen Interview: 51 Mitglieder der Vereinigung Le Papotin, die an Autismus-Spektrum-Störungen leiden, stellen ihm schlichte oder schwere Fragen. Noch sind nicht alle an ihrem Platz, aber die Kameras laufen bereits. Frankreichs Präsident drückt, ganz Berufspolitiker, allen Anwesenden die Hand. «Guten Tag, Herr Präsident, wie heisst du?», fragt ihn Arnaud D., ohne aufzustehen. «Was machen Sie im Leben, Emmanuel Macron, was für einen Beruf?», will Grégory wissen. «Unsere atypischen Journalist:innen freuen sich sehr, Sie bei den ‹Rencontres du Papotin› begrüssen zu dürfen», leitet der Psychologe und Moderator Julien Bancilhon die Begegnung ein. Macron stellt sich kurz als «Staatspräsident, ehemaliger Bankier und Berater» vor, dann kommt die erste Salve von Fragen: «Wie heisst Ihre Frau?» – «Brigitte.», «Wann ist ihr Geburtstag?» – «Am 13. April.», «Wo ist sie geboren, als sie ganz klein war?» – «In Amiens.»

Das seit September auf France 2 ausgestrahlte TV-Magazin «Les Rencontres du Papotin» wurde auf Anregung von Olivier Nakache und Éric Toledano ins Leben gerufen. Die beiden Regisseure sind bekannt als Autoren von Wohlfühlfilmen mit Tiefgang rund ums Thema Gesundheit – darunter der Publikumserfolg «Intouchables» (2011) und die Arte-Serie «En thérapie» (2021). Dass sich ihr letzter Kinofilm, «Hors normes» (2019), mit Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung befasst, ist – auch – Folge einer Fragestunde mit den Verfasser:innen der Zeitschrift «Le Papotin» 2015.

Bitte kein Mitleid!

Die Zeitschrift wurde schon vor 33 Jahren durch Driss El Kesri gegründet, Betreuer in der Tagesklinik von Antony bei Paris, die Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen zwischen 15 und 25 Jahren empfängt. Zwischen der Nummer 1 vom Mai 1990 und der am 14. März dieses Jahres erschienenen Nummer 40 hat sich das Blatt markant professionalisiert. Zählte Erstere bloss acht Seiten mit flauen Schwarzweissfotos und anfängerhaft überladenem Layout, so umfasst Letztere deren 124 und besticht durch ihre souverän-verspielte grafische Gestaltung.

Geblieben ist indes die Grundausrichtung. Diese stellte der Psychiater Moïse Assouline, Herausgeber von «Le Papotin» seit der Gründung, in der Nummer 21 in elf Punkten vor. Zusammengefasst: das Streben nach Würde und sozialer Anerkennung durch das Hervorheben dessen, was alle Menschen verbindet (namentlich Kunst und Kultur), und unter Zurückweisung von Mitleid, positiver Diskriminierung sowie des klinischen Blicks. «Kranke werden nicht allein durch ihre Krankheiten definiert, Behinderte nicht durch ihre Behinderungen, Autist:innen nicht durch ihren Autismus», so Assouline. Vielmehr bestächen die Verfasser:innen der Zeitschrift durch Intelligenz, Einfallsreichtum, einen anderen Blick, Komik, treffende Naivität, Kommunikationsvermögen und Hedonismus.

Mal prosaisch, mal verstiegen

Diese Tugenden zeichnen viele der Interviews, Zeichnungen und lyrischen Kurztexte aus, die die Grundpfeiler von «Le Papotin» bilden. Gerade die unkonventionellen Gespräche sind das Markenzeichen der Zeitschrift und ihres TV-Derivats, schlagen die unverblümten, oft unerhörten Fragen der «papotinEs» an Gäste wie Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy, Mireille Mathieu oder Carla Bruni doch immer wieder zündende Funken. Manche der Fragen tönen praktisch, ja prosaisch – «Mit was rasierst du dich morgens?», «Gehst du gern bowlen?» –, andere wirken profund, wo nicht gar verstiegen: «Wenn man sich ständig Freuden des ganzen Körpers zugesteht, zehrt man dann nicht eine Form von Energie auf, die, unverbraucht, andere Formen von Intelligenz zeitigt?»

Nicht zuletzt wachsen einem von Ausgabe zu Ausgabe gewisse «Typen» von Fragesteller:innen ans Herz: der Klassikfan und der Autonarr, der Lakoniker und die Superherzliche, der leutselige Duzer und der ölige Präsidentschaftsanwärter, die Timid-Verdruckste und der Drechsler poetisch-verschwurbelter Phrasen. Wer es nicht schon gewusst hätte, begreift hier in der Anschauung, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung ganz unterschiedliche Charaktere besitzen. Leserinnen und/oder Zuschauer erleben sie als ihresgleichen. Genau die Einsicht, die «Le Papotin» zu vermitteln sucht.