Stahlberger: Weltuntergang, ohne Witz
Wie keine andere Band haben Stahlberger das Unbehagen in der Schweiz besungen. Auf ihrem neuen Album «Lüt uf Fotene» ist davon nur noch das Misstrauen gegenüber jeglicher Behaglichkeit geblieben. Gerade darum klingen sie heller als je zuvor.
So romantisch klangen Stahlberger noch nie. «Hei zu dir» ist ein schlichtes Lied, es beginnt mit einer versonnenen Melodie in versöhnlichem Dur, die anstelle eines Refrains zwei Strophen rahmt. Es handelt von Gefangenschaft, im Lebenslauf und im eigenen Kopf, und von der Liebe als befreiender Kraft.
«Du häsch mir e Fiile gschickt / Imene Brot» – dieses Motiv, am besten bekannt aus Comics, hat zwar noch etwas vom trockenen Humor, der für die Songtexte von Manuel Stahlberger eine Art Lebenselixier ist, aber es ist hier auch nicht ironisch unterspült. Der Ausbruch ins Liebesnest gelingt zwar nur vorübergehend, aber er endet auch nicht als Farce, wie das in früheren Songs der Band unausweichlich schien. Am Ende bleibt gar eine Ahnung von Glück.
Stahlberger wagen wieder mehr Pop auf ihrem fünften Album, «Lüt uf Fotene», das nächste Woche erscheint. Das machen sie schon mit den Songs klar, die sie diesem vorausschicken: Nach «Hei zu dir» kam «Gar nöd i». Der Song handelt, wie so oft bei Stahlberger, von Entfremdung: von angeblichen Errungenschaften einer Kernfamilie und einer Band, kleinen Gemeinschaften, in die man sich eingebettet fühlen könnte. Das geht höchstens bis zu jenem Moment, in dem die Fremdheit dieser falschen Nester schlagartig bewusst wird, wie ein Fehler in der bürgerlichen Matrix. Die Musik ist nicht heiter, aber auch kein bisschen klaustrophobisch; die perlende Gitarre und der fabulierende Synthesizer ziehen in die Weite. Und wie Stahlberger im Refrain das Timbre seiner Stimme in hohen Lagen schwingen lässt – so weit vorgewagt hat er sich als Sänger bisher nicht.
Nationale Motive
Auch wenn sie ein paar Fenster mehr bekommen hat, ist das im Grunde keine andere Welt, in der sich das neue Album bewegt. Es gibt in dieser Welt kein einfaches Auskommen, die Umgebung bleibt unbehaglich, die Identitäten sind nach wie vor prekär. Doch diese Unzulänglichkeiten kommen hier abstrakter, ja existenzieller daher. «Lüt uf Fotene» ist das erste Album mit Texten von Manuel Stahlberger, auf dem sich kein Song mit eindeutigem Bezug zur Schweiz mehr findet.
Situationen aus dem Schweizer Alltag in lakonischen Beschreibungen ins Absurde zu drehen oder die Normalität ins Tragische zu kippen, das kann Manuel Stahlberger wie kaum jemand sonst. Ein Grossteil des hiesigen Mundartpop verfällt hingegen faszinierend verlässlich national angehauchten Motiven – als würde die regionale Beschränkung der Sprache sich auch auf den geistigen Horizont niederschlagen.
Das lässt sich auch noch an aktuellen Songs von Musikern beobachten, die weit weg von Gölä und Trauffer sozialisiert wurden. In radiofreundlicher Ausprägung zum Beispiel bei Dabu Fantastic und ihrem Song «Männerchor und Frauechor». Da treffen sich die «gewöhnlichen» Leute zum Singen «im Sääli vis-à-vis», dann in der Dorfkneipe (und natürlich auf der Tonspur). Sie treffen (sic) zwar nicht jeden Ton, und gerade darum soll die Geschichte so rührend sein.
Musikalisch versierter, aber in der Feier des Gewöhnlichen sehr ähnlich gestrickt, singt Fai Baba in «Fotograf» von einem, der Porträts von berühmten Leuten schiesst, aber eigentlich so gern ein Kioskverkäufer wäre, der «Käfeli und Gipfeli» verkauft. Der Zürcher hat nach längerer Abwesenheit seinen einst ungestümen Bühnenauftritt gezähmt und sich vom Englischen verabschiedet. Mit der Wende zur Mundart kam auch das bescheidene Glück im Diminutiv.
Der Planet macht Konkurs
Gegen diese typisch schweizerische Sehnsucht nach dem einfachen Glück ist der Stahlberger-Kosmos immun. Selbst wenn sie vom Ausbruch aus dem unwirtlichen Alltag träumen, wirken die Figuren darin verloren. Sie tun das in Form von Lebensumbrüchen und spirituellen Erweckungen, wie beim Vater in «Mission of Love» vom letzten Album, «Dini zwei Wänd» (2019), aber auch wenn sie den Weltuntergang herbeisehnen, wie der Junge in «Familiefehri in Schwede» von Stahlbergers Soloalbum «Kristalltunnel» (2016). Innerhalb der musikalischen Welt sorgen solche wiederkehrenden Motive für Vertrautheit, an ihnen lassen sich aber auch Entwicklungen festmachen.
In «Wenn d Welt undergoht» vom Album «Die Gschicht isch besser» (2014), mit dem sich Stahlberger schon einmal stärker Richtung Pop orientiert hatten, war der Weltuntergang auf Pointen gedreht, wenn jemand an der Supermarktkasse etwa nach der «Superkarte» gefragt wird, während der Planet in die Luft fliegt. Auch auf dem neuen Album «Lüt uf Fotene» geht die Welt wieder zweimal unter, aber zum Lachen ist das nicht mehr. In «D Welt macht zue» fliegt der Planet nicht in die Luft, er macht Konkurs: Natur und Zivilisation, gratis zum Mitnehmen! «Ali Mensche und Tier / Gits jetz eifach so / Anderi Planete / Wäred vilicht froh». Man hört diesen Song nicht mehr auf einzelne Zeilen hin, vielmehr fügt sich die Liste des Ausverkaufs zu einer ökologischen Allegorie.
Dass Stahlberger den Witz weniger nötig haben, hat viel mit dem raffinierteren Sound der Band zu tun. Zwischen «Wenn d Welt undergoht» und «D Welt macht zue» liegen acht Jahre. Bei beiden Songs schwingt vordergründig eine eingängige Melodie aus dem Synthesizer obenaus, aber das Fundament hat sich weiter vom beschaulichen Rockarrangement entfernt. Der neue Song hat kein klares Zentrum, etwa regelmässige Hebungen eines Beats, dafür branden synthetische Streicher und ein vollmundiger Bass in wogenden Bewegungen gegeneinander, darüber schichten sich weitere Figuren und Geräusche, ohne dass das überladen oder ausgefallen klingt. Auch die Bedeutung von Refrains hat abgenommen, ein Song macht sich sogar darüber lustig. Zu einem Krautrockbeat und zerstreut hallenden Sounds geht es in «Da muesch doch jetz neh» ums Warten auf einen erlösenden Moment, der natürlich nie kommt.
Zurück zu grossen Bögen
Solche Verdichtungen verdanken Stahlberger auch den Experimenten, mit denen sie sich zuletzt beschäftigt haben. Dem Album «Dini zwei Wänd» etwa, das auf evolvierenden Jams aufbaute und sich mit seinem dunklen, grobkörnigen Sound auch vom etwas zu geschliffenen «Die Gschicht isch besser» absetzen wollte.
Noch weiter von verlässlichen Popstrukturen entfernten sich Manuel Stahlberger und Bit-Tuner auf ihrem Album «I däre Show» (2020). Die Beats von Bit-Tuner, der in der fünfköpfigen Band Stahlberger mehrheitlich Bass spielt, klingen aufgekratzt und verstrahlt; ohne das Ruder zu übernehmen, legt Stahlberger eine Art Sprechgesang darüber. Die Arbeit an der Songform trat auf diesen Platten in den Hintergrund, dafür tat sich eine Spielwiese für neue Soundspektren auf.
Die Band hat nach ihrer eher Pop-aversiven Phase auf «Lüt uf Fotene» zu den grossen Bögen zurückgefunden. Das ist schon fast Postrock, wie Bass und Gitarre im titelgebenden Stück behutsam den Sound anschwellen lassen. Stahlberger singt von Leuten, die auf Ferienfotos unabsichtlich und verschwommen im Hintergrund herumstehen, bis er die Perspektive dreht und plötzlich selber mit der Kulisse verschmilzt. Das Unbehagen dieser Verschiebung wird nicht kleiner, wenn es sich nicht im Witz entlädt.
Plattentaufe: 14. und 15. April 2022, St. Gallen, Palace. Weitere Konzerte: 29. April 2022, Luzern, Schüür; 30. April 2022, Baden, Royal.
Stahlberger: Lüt uf Fotene. Irascible. 2022