Proteste in Frankreich: «Störrische Gallier» lassen nicht locker
Präsident Macron, der die Rentenreform ohne Abstimmung im Parlament durchdrückte, befeuert mit seiner Arroganz die Wut auf den Strassen.
Brennende Müllberge, Tränengas, Blendgranaten, Schlagstöcke: Es sind Szenen, wie man sie in Frankreich in diesem Ausmass zuletzt vor vier Jahren gesehen hat – als während der Gelbwestenproteste die Bilder von brutalen Zusammenstössen zwischen Polizei und Demonstrierenden um die Welt gingen. In diesen bewegten Tagen erlebt das Land ein trauriges Déjà-vu.
Zwei Wochen ist es her, seit die Regierung von Emmanuel Macron, angeführt durch Premierministerin Élisabeth Borne, die viel kritisierte Rentenreform, die eine Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre vorsieht, am Parlament vorbeigeschleust hat. Seitdem herrscht der Ausnahmezustand. Einerseits gehen die von den Gewerkschaften organisierten landesweiten Streiks weiter. Viele Bereiche des öffentlichen Lebens werden lahmgelegt. Auf der anderen Seite gibt es noch immer Zulauf zu den grossen Demonstrationen, wie am Dienstag dieser Woche mit erneut mehreren Hunderttausend Teilnehmer:innen. Seit die Prüfungszeit an Schulen und Universitäten vorbei ist, sind auch auffallend viele Jüngere dabei. Der Druck der Strasse lässt also nicht nach.
Reformer um jeden Preis
Indes hat Macron in einem Fernsehinterview vergangene Woche nur einen einzigen Fehler bei der Rentenreform eingeräumt: Er habe deren Notwendigkeit der Bevölkerung zu wenig erklärt. Anders gesagt: Ihr habt es nicht verstanden, ich habe alles richtig gemacht. Um jeden Preis will er sich den Nimbus des Reformers bewahren. Allen Widerständen zum Trotz, und sei es gegen das uneinsichtige Volk, gegen die «störrischen Gallier», wie er sie einst bezeichnete. Es war kein Schlichtungsversuch, keine Geste der Versöhnung in Richtung seiner Landsleute, von denen immer noch die grosse Mehrheit gegen die Reform ist. Stattdessen glauben laut einer letzten Umfrage rund vierzig Prozent, der Druck der Strasse müsse noch wachsen, um die Regierung zur Umkehr zu zwingen.
Laurent Berger, der Chef der Gewerkschaft CFDT, schlug indes vor, die Reform für einige Wochen auszusetzen und einen kleinen Kreis von Vermittlern mit Beratungen zu betrauen, wie doch noch ein Dialog zustande kommen könnte. Es wäre nicht das erste Mal, dass in Frankreich ein Gesetz auch nach dem Beschluss geändert oder gar gekippt wird oder schlichtweg nie zur Anwendung kommt. Doch diese Blösse will sich ein ehrgeiziger Staatschef wie Macron auf keinen Fall geben. Stattdessen lässt er seinen Sicherheitskräften freie Hand – womöglich in der Hoffnung, die Angst vor der repressiven Antwort des Staates könnte einige abhalten weiterzumachen.
An diesem Wochenende hat sich Frankreichs Polizei erneut von ihrer hässlichsten Seite gezeigt. Sie setzte nicht zum ersten Mal umstrittene Blend- und Tränengasgranaten ein, die im Waffenrecht in die Kategorie der gefährlichen, nur in Ausnahmefällen erlaubten Waffen fallen. Sowohl der Europarat als auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International beklagten den «exzessiven» Einsatz von Gewalt. Bei einem Protest im westfranzösischen Sainte-Soline feuerten Sicherheitskräfte am Wochenende zahlreiche Granaten ab. Dabei ging es nicht um das Renteneintrittsalter, sondern um ein Bewässerungsprojekt, gegen das mehrere Tausend Umweltaktivist:innen demonstrierten – wobei es zu gewaltsamen Zusammenstössen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei kam. Im aktuellen Kontext haben die Bilder wie aus einem Guerillakrieg das ohnehin extrem angespannte Klima im Land weiter angeheizt.
Polizei auf der Jagd
4000 Granaten feuerte die Polizei binnen zwei Stunden auf die Demonstrant:innen. Mehr als 200 von diesen wurden verletzt, zwei schweben in Lebensgefahr, und auch um die 50 Polizeibeamt:innen erlitten Verletzungen. In den Städten stehen unterdessen besonders die Beamt:innen der sogenannten «BRAV-M»-Einheiten in der Kritik. Die mobilen Einsatztruppen bewegen sich zu zweit auf Motorrädern und machen – so sieht man es auf verschiedenen Videos im Netz – regelrecht Jagd auf Personen, die sie als gewalttätig ausmachen. Die Geschichte der Motorradbrigaden führt ins Jahr 1969, als die Polizeipräfektur die Spezialeinheiten gründete, seinerzeit Voltigeurs genannt, weil man ein Wiederaufflammen der Strassenschlachten vom Mai 1968 befürchtete.
Natürlich ist nicht zu leugnen, dass auch bei einigen Demonstrant:innen eine hohe Gewaltbereitschaft herrscht, dass Radikale verschiedenster ideologischer Couleur die Zusammenstösse provozieren. Es ist mittlerweile ein beängstigendes Level an Gewalt erreicht, ein Ausweg ist nur schwierig auszumachen. Sollten sich Macron oder sein Innenminister Gérald Darmanin gegen die Sicherheitskräfte stellen und Kritik an der Polizei oder der Gendarmerie üben, könnten sie auch diese gegen sich aufbringen. Und wenn die Proteste doch noch an Dynamik einbüssen sollten, was bislang nicht abzusehen ist, könnte sie Macron mit seinem ignoranten und abgehobenen Auftreten jederzeit wieder aufflammen lassen.