Sachbuch: Berichte von der Flucht
Fast am Schluss dieses Buchs wird der Philosoph Bernard Williams zitiert. Es geht um das antike Athen, wo die arbeitenden Frauen und Sklav:innen es den männlichen Vollbürgern ermöglichten, ihre demokratischen Herrschaftsrechte auszuüben. Williams stellt fest, «dass das Leben auf der Grundlage der Sklavenhaltung ablief und tatsächlich keinen Raum liess, in dem sich die Frage nach der Richtigkeit stellen konnte». Zivilisation ohne Sklaverei, das war undenkbar.
Nun massen wir uns heute an, über das Schicksal von Asylsuchenden zu entscheiden, als ob es klar wäre, dass es richtig ist, sie auf jeder Etappe ihres Wegs zu drangsalieren. Matthieu Aikins’ Buch «Die Nackten fürchten kein Wasser» beschäftigt sich mit den Barrieren, die jene überwinden müssen, die dort, wo sie leben, in Gefahr sind und deshalb einen besseren Ort suchen.
Aikins ist ein kanadischer Journalist; rein äusserlich könnte er aber auch als Afghane durchgehen. Ohne Pass macht er sich zusammen mit seinem Freund Omar von Kabul aus auf die monatelange Reise nach Europa. Ja, er könnte sich im schlimmsten Fall auf seinen Status als Bürger einer westlichen Nation berufen, aber er begibt sich in reale Gefahr, wenn er ein Schlauchboot nach Griechenland besteigt oder im Lager Moria haust. Sein Bericht, den er unterwegs in sein Handy getippt hat, ist eindrücklich, ohne dass er die Geschichte dramatisieren muss. Hunderttausende sind mit Omar und ihm unterwegs; sie helfen und bestehlen einander, aber alle müssen sie extreme Zumutungen ertragen.
Aikins flicht in seinem Buch auch politische und (zeit)historische Begebenheiten mit ein, die das Erlebte in einen grösseren Rahmen einordnen – und begreiflich machen, wie korrumpiert unsere Moral ist, die sich auf die Menschenrechte beruft. Der ehemalige italienische Premier Matteo Renzi bezeichnete Schlepper als Sklavenhändler des 21. Jahrhunderts. Asylsuchende sehen das differenzierter. Sie sind den Schleppern ausgeliefert – aber wer tut mehr für sie?