Tuzla–Thayngen–Tuzla: Mein Freund Valid

Nr. 13 –

Valids Familie musste vor dem Krieg in Jugoslawien flüchten. Sie landete in der Schweiz. Dann war sie plötzlich weg. Was ist aus Valid geworden?

Valid Reka in seinem Burek-Laden in Tuzla
Burekverkäufer und Familienvater: Valid Reka (32) heute in Tuzla.

Einer meiner ersten Freunde hiess Valid. Wir gingen zusammen in den Kindergarten und die erste Klasse. Mit seiner Familie wohnte er in einem Haus mit schweren Holztüren, das der Gemeinde gehörte. Im Wohnzimmer gab es einen Fernseher und ein Sofa, auf dem die Familie immer sass, wenn ich ihn abholte; das Sofa war klein und die Familie gross. Man sagte, sie seien vor dem Krieg in Jugoslawien geflohen.

In meinem Kopf hat sich ein Bild festgesetzt: Valid und seine Familie sitzen in der Stube und starren auf den Fernseher. Panzer fahren über fleckige Strassen, Maschinengewehre knallen, Granaten knallen, verzweifelte Menschen stehen vor kaputten Wohnblöcken, die mit den schwarzen Fensterhöhlen aussehen wie blinde Ungeheuer. Valids Familie starrt und starrt.

Valid sprach nicht so gut Deutsch. Einmal klingelte das Telefon im Klassenzimmer, Valid hörte es als Erster und sagte sehr beherzt: «Frau Lehrerin, muesch du auf die Telefon», worauf die Lehrerin tat, als spränge sie wie ein Frosch auf, lachte, «Soll ich etwa auf das Telefon draufhocken?», und die ganze Klasse lachte.

Ich sehe, wie Valid verschämt mitlacht.

Dann, nach den Sommerferien 1998, war er plötzlich weg. Nie habe ich erfahren, wohin er und seine Familie gegangen sind.

privates Kinderfoto: Valid bereitet sich für den Kindergarten vor
Am Anfang stand die Frage, wo er heute sein mag: Valid bereitet sich für den Kindergarten vor (Thayngen, circa 1995). Foto: Familie Reka

Flashback

Am 24. Februar 2022 rollen russische Panzer in die Ukraine. Die Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagt im Schweizer Fernsehen: «Jetzt haben wir einen Krieg mitten in Europa. Es ist der erste Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg, der alle berührt, der alle sehr besorgt. Es sind Europäer und Europäerinnen, die praktisch Nachbarn sind.»

Und Valid, verdammt?

Ich erinnere mich nicht einmal an seinen Nachnamen. Also notiere ich das wenige, das ich über ihn weiss. Er konnte rennen wie der Teufel. Wenn er lachte, verengten sich seine Augen zu Schlitzen, seine Mundwinkel sprangen auseinander, und man konnte nicht anders als auch lachen. Wollten wir zusammen spielen, musste er seine Eltern fragen. Sie redeten in einer mir fremden, schroff klingenden Sprache. Sie sagten: «Eine Stunde.» Den ganzen Weg zu mir lachte Valid und wiederholte immer wieder: «Eine Stunde!» Als die Stunde um war, war ein halber Tag vergangen.

Ich sehe, wie Valid beim Pult der Lehrerin steht und seine Hausaufgaben zeigt. «Das ist doch nicht mal deine Schrift», sagt sie, «du hast es schon wieder deiner älteren Schwester gegeben.» Valid schweigt. Er wirkt ganz klein.

Wir waren eine ordentliche Klasse in einem Dorf namens Thayngen am östlichen Rand des Kantons Schaffhausen. Am Bahnhofsschalter gab es gratis Kartonbillette für Kinder, denn das Dorf war so ordentlich, dass selbst die Kinder erwachsen sein wollten.

Als ich mich per E-Mail bei der Lehrerin nach Valid erkundige, antwortet sie, sie könne sich nicht an ihn erinnern. Auch die Kindergärtnerin erinnert sich nicht. Es ist, als hätte es Valid nie gegeben. Nach Wochen der erfolglosen Suche fahre ich zu meiner Mutter. Auf dem Küchenschrank steht eine riesige Kiste mit Fotos. In einem Umschlag entdecke ich ein altes Klassenfoto. Wir stehen um eine Leiter auf dem Pausenplatz, in unseren kurzen Hosen, langen Röcken und kleinen Schuhen sehen wir wie Puppen aus. Valid springt gleich ins Auge. Sein breites Lachen.

Ich finde auch eine Klassenliste. Zuunterst, von der Lehrerin noch von Hand hinzugefügt, steht: Valid Reka.

Die Gemeindeverwaltung schickt einen Brief mit dem Betreff «Adressauskunft». Unter Valids Name steht: Rudarska 67, Tuzla, Bosnien und Herzegowina. Zuzug: 1993. Wegzug: 1998.

Gebäude in Tuzla mit Einschusslöchern, im Vordergrund ein Auto
Tuzla war einst eine bedeutende Industriestadt. Doch die meisten Fabriken wurden geschlossen, und die Stadt schrumpft.
Blick über Hausdächer auf Wohnhochhäuser in Tuzla

Februar 2023. Mit WOZ-Fotografin Ursula Häne fahre ich durch bewaldete Hügel Richtung Tuzla. Von weitem sieht man die Kühltürme des riesigen Kohlekraftwerks, das das halbe Land mit Strom versorgt. Früher, im sozialistischen Jugoslawien, war Tuzla die Stadt der Kohleminen und Chemiefabriken, die Löhne stiegen und die Krebsraten auch. Menschen aus ganz Jugoslawien fanden hier Arbeit, Muslime, Katholikinnen und Serbisch-Orthodoxe, die sich nun als Arbeiter:innen oder «Tuzlaci» verstanden.

Eine Nachricht leuchtet auf dem Telefonbildschirm auf. «Heute Abend essen wir bei mir zu Hause», schreibt Valid.

Dank der alten Adresse war ich auf eine Bäckerei gestossen, die auf einen Mann eingetragen war, der Valids Vater sein musste. Als ich den Namen des Vaters im Archiv der Schaffhauser Lokalzeitung suchte, fand ich eine Geburtsanzeige. 1996 bekam Valid einen kleinen Bruder. Eines Tages fand ich den Bruder auf Instagram. Er schrieb, Valid wohne noch immer in Tuzla. Dann schickte er ein Bild von Valid: ein Mann mit schwarzem Haar und Dreitagebart. Er wirkte auf eine seltsame Weise vertraut.

«Hallo, Freund! Ich freue mich, Sie zu sehen»

Kurz vor Tuzla geht es über einen letzten Hügel hinunter ins Tal, wo sich die Stadt eingegraben hat. Man taucht ein in Korridore aus Wohnaktenschränken und einstürzenden Altbauten, in Alleen aus Schildern von Anwaltsbüros, als befände sich die ganze Stadt in einem Erbschaftsstreit. Es riecht nach starkem Parfüm und verbrannter Kohle. Männer mit kurzen dunklen Haaren sitzen in Wettbüros oder Casinos; die Cafés und Bars heissen «New York» oder «Euforija», und überall Aschenbecher, die alle paar Minuten geleert werden, ein ewiger Kreislauf, der die Stadt am Leben erhält.

Im Krieg, so erzählt man sich, als sich die Bewohner Tuzlas zu einem kleinen Bataillon zusammentaten, um die Stadt zu verteidigen, sagten die Soldaten: «Gib mir zehn Zigaretten und zehn Kugeln, und der Feind wird nie auch nur einen Fuss in diese Stadt setzen.» Sie hielten Wort.

Valid parkiert seinen VW vor dem Hotel. Wir geben uns die Hand, mustern uns verstohlen. Valid wirkt kräftig, er trägt einen roten Kapuzenpulli und Jeans, die seinen Oberschenkeln wenig Freiraum geben. «Hallo, Freund», sagt er. «Ich freue mich, Sie zu sehen.»

Während der Fahrt reden wir über Fussball und das Wetter. Valid spricht ziemlich gut Deutsch, obschon er es seit 25 Jahren praktisch nie mehr benutzt hat. Wir unterhalten uns in kurzen, einfachen Sätzen, und wenn wir uns verirren, greifen wir auf eine Übersetzungsapp zurück. Nach einer Weile biegt er rechts ab, rast einen steilen Hang hinauf und hält vor einem zweistöckigen Haus mit Giebeldach. Hier lebt er mit seiner Familie: Ehefrau, zwei Töchter, Mutter, Vater, Bruder.

Die Familie Reka (v. l.): Valid, Tesmira, deren Tochter Adna, Valids Vater Zerat, Tochter Mirha, Mutter Bahta, Bruder Zehrid
Die Familie Reka (v. l.): Valid, Tesmira, deren Tochter Adna, Valids Vater Zerat, Tochter Mirha, Mutter Bahta, Bruder Zehrid.

Wir gehen in die Stube. Die Männer nehmen auf der Couch Platz, neben mir Valids Vater, ein ernster Mann mit stechenden blauen Augen. Es scheint, als ermüde es ihn, viel zu reden.

Valids Frau Tesmira trägt ein rosafarbenes Kopftuch und ein dunkles Kleid. Lange sehe ich nur ihren Rock rauschen, von der Küche in die Stube und zurück. Der Tisch droht unter dem vielen Essen zusammenzubrechen, und Tesmira bringt noch eine Platte mit Bratkartoffeln. «Wie lange hast du gekocht, fünf Stunden?», frage ich sie. «Eine halbe Stunde», sagt Valid. Tesmira sagt nichts. Als unsere Bäuche voll sind, serviert sie eine riesige Erdnusscrèmetorte.

Im Fernsehen läuft Champions League. Valids Vater erzählt, dass sie schon drei, vier Tage nach dem Ausbruch des Krieges im Frühjahr 1992 nach Kroatien geflüchtet seien, denn viele Soldaten seien durch Tuzla marschiert. Man habe schreckliche Nachrichten gehört, von Massenvergewaltigungen, aufgespiessten Körpern und Leichen, in die Kreuze geritzt gewesen seien. Nach ein paar Wochen reiste der Vater alleine nach Italien, um auf einem Hof zu arbeiten. Später fuhr er in die Schweiz, in Schaffhausen wohnten Verwandte von ihm, und die Familie kam nach. Sie wurden als offizielle Flüchtlinge anerkannt.

Kurz nach der Flucht der Rekas feuerten die Serben die erste Granate auf Tuzla ab. Die Leute suchten in Kellern und Bunkern Zuflucht. Bücher und Möbel wurden verheizt, Hühner auf Balkonen gehalten und Tote auf Fussballfeldern begraben. Als Tuzla während zehn Monaten komplett eingekesselt war, verhungerten fast sechzig Menschen pro Tag.

Valids Mutter holt einen kleinen Koffer. Er ist voller alter Fotos aus den fünf Jahren in Thayngen. Valid beim Baden im Brunnen vor der Kirche. Seine Schwester beim Grillieren mit ihren Freundinnen. Valid zu Besuch beim «Donnschtig-Jass» des Schweizer Fernsehens, als Junior des FC Thayngen, beim Kerzenausblasen in der Klasse, vor der Dorfbäckerei.

Valids Vater Zerat beim Vorbereiten des Burekteigs
Die Buregdžinica wird schon in dritter Generation von der Familie geführt: Valids Vater Zerat beim Vorbereiten des Burekteigs.

«Eure Familie hat ja auch eine Bäckerei», sage ich. «Sag nicht Bäckerei!», ruft Valid. «Buregdžinica.» Sie machen ausschliesslich Burek, ein gefülltes Blätterteiggebäck, nach einem alten Rezept. «Morgen kommst du vorbei.»

Als ich aufwache, ist mir speiübel, es ist, als hätte ich gestern geraucht, bis die Lunge eintrocknete. Ich verfluche die Luft und schleppe mich zur Buregdžinica der Familie Reka. Sie befindet sich im Erdgeschoss eines Plattenbaus einige Hundert Meter abseits der Altstadt und hat vier Tische und eine Theke.

Valid steht hinter der Theke, in der frische Burek ausgelegt sind. Er belädt einen Teller mit allen Bureksorten, Hackfleisch, Kartoffeln, Schafskäse. Sie riechen herrlich. Nach wenigen Bissen ist die Übelkeit weg.

Wie jeden Morgen ist Valid um 5 Uhr aufgestanden, hat Kartoffeln beim Bauern und Fleisch beim Metzger geholt und um 6 Uhr begonnen, den Teig vorzubereiten und die ersten Burek zu backen. Die meisten Kunden sind, wie immer, zwischen 7 und 9 Uhr erschienen. Später, nach dem Mittag, wird Valid eine kurze Pause einlegen. Ladenschluss ist um 17 Uhr. Nur am Sonntag bleibt die Bäckerei geschlossen, und am Freitag um 12 fährt Valid zur Moschee, zur Dschuma, wo der Imam Verse aus dem Koran vorliest.

Hinter der Theke hängt ein eingerahmtes Dokument. Ich stutze. Die Firma ist auf Valids jüngeren Bruder eingetragen. Ich beschliesse, dieser Sache später auf den Grund zu gehen.

Die Buregdžinica wird schon in dritter Generation von der Familie geführt. Ursprünglich stammen die Rekas aus einem Bergdorf ganz im Süden des heutigen Kosovo, aus einem Volk, das sich Gorani nennt, «Bergmenschen». Die Gorani waren in Jugoslawien für ihre Konditor- und Backkünste bekannt. In den sechziger Jahren kamen Valids Grosseltern nach Tuzla, später sein Vater. Nach der Schule war er auf Wanderjahre gegangen, wie es Tradition bei den Gorani war. Das Familienrezept für Burek ist nicht schriftlich festgehalten. Er musste das Handwerk nur durchs Beobachten lernen.

Valids Vater steht in der Backstube und schwingt den Teig wie ein Lasso durch die Luft. Aus einem kleinen Klumpen entsteht ein fast zwei Quadratmeter grosses, papierdünnes Teigsegel. Dann kommt die Füllung darauf, der Teig wird zusammengerollt, aufs Blech gelegt und in den Ofen geschoben.

Nachdem die Familie aus Bosnien geflüchtet und in Thayngen untergekommen war, hätte Valids Vater gern gearbeitet. Aber er erhielt keine Arbeitsbewilligung. Ab und zu arbeitete er illegal auf dem Bau. Als der Krieg vorbei war, musste die Familie die Schweiz verlassen. Ihr Aufenthalt sei «nicht mehr länger gerechtfertigt», hiess es vom Bund. Der Familie wurde Geld zugesteckt – 4000 Franken pro erwachsene Person, 2000 pro Kind – und Adieu gesagt.

So kamen die Rekas im Sommer 1998 im zerbombten Tuzla an. Die Fenster der Buregdžinica waren zertrümmert, ansonsten war das meiste heil geblieben. Die Rekas machten sich daran, ein Leben, das sie gekannt hatten, in einem Land, das sie kaum mehr kannten, aufzubauen.

Die Familie in einem kaputten System

In der Pizzabar kann man auf Spiele der vierten deutschen Liga wetten. Valid setzt sich etwas umständlich auf einen Hocker. Er war Fussball spielen, und jetzt schmerzt sein Rücken. «Promaja», sagt Valid, Durchzug. Es ist Sonntag, Valids einziger freier Tag. Auf dem Weg hierher sind wir auf alte Wahlplakate gestossen, und ich frage Valid, wen er gewählt habe. «Niemanden», sagt er. «Die Politiker sind alle kriminell. Wenn du einen guten Job willst, sogar in der Privatwirtschaft, musst du einer Partei beitreten.»

Seit meiner Ankunft sind ein paar Tage verstrichen, in denen sich eine Art Ritual etabliert hat. Tagsüber streifte ich durch die Stadt und traf Leute für Interviews, um mehr über Tuzla zu erfahren.

In einem Büro in der Altstadt begrüsste mich Selim Bešlagić. Während des Krieges war er Bürgermeister von Tuzla gewesen. Er hatte sich immer darum bemüht, dass Bosniak:innen, Serb:innen und Kroat:innen in Frieden zusammenleben. Er wolle nicht Bürgermeister einer Stadt sein, in der nur noch eine Ethnie wohne, pflegte er zu sagen. 1998 wurde er für den Friedensnobelpreis nominiert. Die meiste Zeit kümmert er sich nun um seine Enkel und den Garten bei seinem Ferienhaus. «Früher hatten wir ein kostenloses Gesundheits- und Schulsystem, aber keine Freiheiten. Heute sind wir frei, aber ärmer», sagte Bešlagić. «28 Jahre nach Kriegsende diskutieren wir immer noch dieselben Fragen: Wer hat angefangen? Wer ist schuld? Wie viele Opfer gab es? Welches Territorium gehört wem? Wenn du ein Land ruinieren willst, musst du das Schulsystem zerstören, und wir haben das Schulsystem zerstört. Für 15 000 Euro kannst du jeglichen Doktortitel kaufen. Unsere Architekten bauen Häuser, die einstürzen, und unsere Ärzte operieren falsch.»

Der Geschichtsprofessor Izet Šabotić erzählte, wie nach dem Krieg Spekulanten auf den Plan getreten seien, Fabriken gekauft, das ganze Inventar bis auf den letzten Schraubenschlüssel verkauft und die Betriebe geschlossen hätten. Dann hob er den Zeigefinger und sagte, es seien Satellitenpolitiker, von Zagreb und Belgrad gesteuert, die Bosnien spalten wollten.

Tibor Kovačević, ein junger Politiker der sozialdemokratischen Kleinpartei Naša Stranka, erzählte: «Die meisten Parteien sind für nichts. Sie zahlen dir 25 Euro, wenn du sie wählst. Einmal stellten wir einen Tisch in der Stadt auf, um Werbung zu machen. Plötzlich standen eine Menge Leute da. Sie fragten: Wo ist das Geld? Wir sagten: Wir haben keins, aber hört unsere Ideen an. Sie sagten: Verpisst euch!»

Abends besuchte ich jeweils Valids Familie. In der Stube war es immer etwas zu warm. Die Männer sassen auf dem Sofa, im Fernsehen lief Fussball, die Frauen brachten erst Kaffee und dann das Abendessen. Manchmal bot ich an, beim Kochen oder Abwaschen zu helfen. Die ganze Familie lachte mich aus, als sei ich nicht ganz sauber. Die beiden Töchter malten Blumenwiesen und Sternenhimmel für mich oder stellten sich mit geradem Rücken in die Mitte der Stube und sangen ein Lied für uns, als nähmen sie an einer Talentshow teil. Ich lachte viel, ass zu viel und fiel später schwer ins Bett.

Jetzt, an diesem Sonntag in der Bar, sind Valid und ich zum ersten Mal allein unterwegs, ohne Familie. Ich frage ihn, was es mit dem Dokument in der Buregdžinica auf sich hat. Warum läuft der Laden auf den jüngeren Bruder und nicht auf ihn?

«Ich will nur arbeiten», sagt er ausweichend.

Er hat mir erzählt, dass er, als er mit acht Jahren zurück nach Tuzla musste, nicht mehr richtig Bosnisch sprach. Er hatte keine Ahnung von der Grammatik und bekam eine Menge Probleme in der Schule. Während einiger Zeit sei er, selbst inmitten anderer Kinder, bloss stumm dagesessen und habe kaum gelacht, erzählte seine Mutter. Mit fünfzehn, als Valid die neun obligatorischen Schuljahre hinter sich gebracht hatte, fing er an, in der Buregdžinica zu arbeiten. Er verbringt nun schon mehr als sein halbes Leben dort. Erst jetzt, wo seine ältere Tochter in der Schule ist, lernt er mit ihr ein bisschen Grammatik. Sein Bruder war besser in der Schule und machte eine Lehre als Heizungsmonteur. Danach stieg auch er in den Familienbetrieb ein.

Wie verloren fühlte sich Valid auf seinem Weg von Bosnien in die Schweiz und zurück? Wie viel Kraft brauchte er, um sich zu orientieren? Darüber denke ich nach, sage aber nichts. Stattdessen biete ich Valid eine Zigarette an. Er betrachtet sie für eine Weile und lächelt dann, «hajde», meinetwegen. Er raucht nur noch selten. Früher trank er ab und zu auch mal ein Bier. Mit früher meint er die Zeit vor der Hochzeit.

«Hast du dir mal überlegt, in die Schweiz zurückzukehren?» – «Nein», sagt Valid. «Hier ist es gut, wir haben ein eigenes Haus, und ich kann mit meinem Bruder und meinem Vater arbeiten.» – «Streitet ihr nie?» – «Nein.» Wir schweigen.

Es muss geheiratet werden

«Die Familie ist das Wichtigste», sagt Valid nach einer Weile. «Ich möchte noch ein, zwei Kinder mehr. Viele Kinder sind gut, sie sorgen für dich, wenn du alt bist. Von der Rente allein kannst du nicht leben.» Die Rente liegt bei ungefähr 150 Euro pro Monat, das geschätzte Existenzminimum für eine vierköpfige Familie bei 930 Euro.

Es wird langsam dunkel. Valid rutscht vorsichtig von seinem Hocker herunter, um seinen Rücken zu schonen. Als wir nach Hause zur Familie kommen, sage ich, Valid sei Invalide. «Invalide im Kopf», erwidert Tesmira. Wir lachen den ganzen Abend darüber.

Irgendwann drückt mir Tesmira ein Telefon in die Hand, auf dem ein Übersetzungsprogramm geöffnet ist. «Willst du unsere Hochzeit sehen?», steht dort zu lesen. Der Film beginnt damit, dass der elf Jahre jüngere Valid auf einem Pferd durch das Heimatdorf seiner Eltern in den Bergen reitet. Er trägt die traditionelle Kleidung der Gorani: Weste, Hemd und einen Hut ohne Krempe. Hinter ihm folgen Verwandte, Freunde und eine Musikgruppe. Tesmira, in eine weiss-rote Tracht gehüllt, ist in einer separaten Gruppe mit Frauen unterwegs, bis sie sich irgendwann treffen und tanzen.

Tesmira Reka, Valids Frau
Tesmira Reka: Valids Frau stammt wie er aus einem Dorf im Kosovo.

Das Dorf heisst Restelica. Das Jahr über ist nicht viel los, aber im Sommer, wenn alle Gorani, die ausgewandert sind, in dieses Dorf zurückkehren, finden drei bis zehn Hochzeiten pro Tag statt. Man muss nie ins Restaurant, weil man ständig eingeladen ist.

Die Blicke wandern zu Valids Bruder, der die Stube betritt. Ein zurückhaltender Mann Mitte zwanzig. Mit seiner Hornbrille erinnert er an einen Jurastudenten. «Dieses Jahr muss er heiraten», sagt der Vater. Er klingt wie ein Offizier. «Er muss?», frage ich. Der Vater nickt, die ganze Familie nickt. Der Bruder guckt Löcher in die Luft.

Die Gorani heiraten untereinander. So ist es, seit man sich erinnern kann. Valid scheint sich entweder damit abgefunden oder sich nie daran gestört zu haben. Er und Tesmira hatten sich beim jährlichen Korso kennengelernt, einem Umzug, bei dem die jungen Frauen in einer Reihe durch die Strassen tanzen, beobachtet von den jungen Männern, die am Strassenrand stehen. Es gelten strenge Regeln. Erst nach der Verlobung darf man sich treffen. Verlobungen werden praktisch nie aufgelöst, und falls doch, endet die Frau ziemlich sicher als gesellschaftliche Aussenseiterin. Wie Tesmira denkt, weiss ich nicht. Ich hätte auch gern mit Valids älterer Schwester geredet, die inzwischen verheiratet ist und in Italien lebt. Das sei nicht möglich, hiess es ohne weitere Erklärung, und ich getraute mich nicht, nach dem Grund zu fragen.

«Ich habe erst sein Aussehen und dann seinen Charakter kennengelernt», schreibt Tesmira in die App. Sie strahlt.

«Da war ich noch ein bisschen schlanker», sagt Valid. «Ich muss eine Diät machen.»

«Jeden Montag beginnt er eine neue Diät», sagt Tesmira.

«Brate moj»

Es ist Nacht, ein paar Stunden noch bis zur Abreise. Die Lichter der Strassenlaternen ziehen an Valids Wagen vorbei. Wir reden über den Krieg, darüber, dass sich Nachbarn gegenseitig umbrachten, und über dieses doch so schöne Land, das kaputtgemacht wurde und immer noch wird.

«Die Leute schauen zu fest aufs Materielle», sagt Valid. «Was willst du mit einem neuen Auto, wenn du sonst nichts hast? Eine gesunde Familie ist das Wichtigste. Und Gott.»

«Gott?», frage ich misstrauisch. «Gab es hier nicht auch Krieg, weil der Name Gottes missbraucht wurde, um Leute zu manipulieren, um das Töten zu rechtfertigen?»

«So denke ich nicht», sagt Valid. «Keiner hier in Tuzla tut das. Ich habe serbische und kroatische Freunde. Ein richtiger Mann respektiert alle Religionen.»

«Komm her, brate moj, mein Bruder», sagt er zum Abschied, «gib mir eine Umarmung.»

Dieser Text wurde mit einem Stipendium des Reporter:innen-Forums unterstützt.